Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
Wilde nach unten trudelte.
Das Seil hielt und knallte sie etwa zwölf Meter unterhalb des festen Knotens in den Fels. Dort sackte Paolina in sich zusammen, eingeklemmt in eine senkrechte Mauerspalte.
Direkt unter ihr stand auf einem unterhöhlten Pfad ein Mann in gelber Lederkleidung, der eine hohe, schmale und abgerundete Kappe trug. Er hielt in seiner rechten Hand eine Schleuder und in der linken einen gefiederten Stab, an dessen Spitze Edelsteine funkelten.
Es ruckte an ihrer Sicherheitsleine. Paolina bemühte sich, das Seil zu packen und Ming dabei zu helfen, sie hinaufzuziehen. Sie nickte dem Fremden zu, bevor sich dieser aus ihrem Blickfeld bewegte und wieder hinter der Felsnase verschwand.
Schließlich lag sie keuchend wieder auf ebener Erde, mit aufgerissenen Handflächen und blutigen Füßen in zerfetzten Schuhen.
»Wir … können unten weitergehen«, brachte sie schließlich unter Schmerzen hervor. »Eine Straße … direkt unter dem … Seilende.«
Ming lächelte, obwohl sie nicht davon ausging, dass er es ehrlich meinte. »Wer da unten war?«, fragte er in dem einfachen, langsam vorgetragenen Chinesisch, das er mit ihr sprach.
Paolina versuchte, mit den Achseln zu zucken. »Ein Mann in … Gelb. Er hatte eine Schleuder. Er starrte mich an.«
»Vielleicht keine gute Idee, ihn treffen unten, hm?«, versuchte es Ming auf Englisch.
Sie starrte zu dem wertlosen Weg hinauf, der sie in eine Sackgasse geführt hatte. »Meinst du etwa, das wäre da oben anders?«
»Nach oben«, sagte er in seiner Muttersprache. Sie brauchte keine Übersetzung, um den Nachdruck in seiner Stimme zu verstehen, seine Sorgen, seine Angst.
Ich kann ganze Städte vernichten und Schiffe von einem Ozean in den anderen versetzen, sagte sie zu sich selbst und humpelte hinter Ming her, um ihren alten Weg wiederaufzunehmen. Dann werde ich mich ja wohl die Mauer hinunterschleppen können. Sie musste einen Weg finden, um sich ihrer Macht zu entledigen, damit sie endlich ihr eigenes Leben führen konnte.
Und Boas wiedersehen, gestand sich Paolina ein.
Wang
Katalogisierer Wang beschäftigte sich mit den Schriftrollen, die man erst vor Kurzem aus der früheren Bibliothek von Chersonesus Aurea herausgeholt hatte. Vor langer Zeit war diese Stadt verlorengegangen und lag seitdem zwischen den weit verstreuten Inseln der Kepulauan Riau in der Nähe Singapurs im Verborgenen. Eine Geschichte, die fast so weit zurückreichte wie die ehrwürdigen Erinnerungen des Himmlischen Kaiserreichs, war damit in Sumpfwasser und alten Geistern untergegangen. Etwas in all dem sprach den Bibliothekar in ihm an und flüsterte ihm in der geheimen Sprache aller Archive zu.
Alle waren dem Sohn des Himmels treu; alle waren ihrem Namen und ihrer Funktion im großen Rad der Gesellschaft treu. Es gab für ihn gar keine andere Möglichkeit, als sich ebenso treu zu verhalten.
Die Fremde, die dieser verdammte Kapitän Leung mitten in Wangs Reich geführt hatte, war nicht nur doppelt widerlich gewesen, weil sie zu den Engländern gehörte und eine Frau war, sie hatte außerdem eine widerwärtige, verführerische Faszination auf ihn ausgeübt. Die Teufel aus dem fernen Westen trugen ihr hinterlistiges Wesen in aller Offenheit auf ihren todesbleichen Gesichtern.
Wenn die Han-Armeen die Römer nach der Schlacht in Sogdien nur verfolgt hätten, dann wäre die heutige Welt ein wesentlich geordneterer Ort.
Wang lächelte; nur ein Bibliothekar konnte Dinge bedauern, die vor zwei Jahrtausenden geschehen waren, ohne sich zur gleichen Zeit daran erinnern zu können, was er zum Frühstück gegessen hatte.
Die Römer konnten über viele Jahrhunderte hinweg ungehindert ihre widerspenstigen, irrelevanten, barbarischen Nachkommen zeugen, und China vergaß, was es damals nur im Ansatz verstanden hatte. Die Khanate wurden zu einem viel größeren Problem und später die Mandschu, bevor sie alle den achtfachen Pfad akzeptierten und sich unter dem Banner des Himmels in goldene Fesseln schlagen ließen. Als die Engländer zurückkehrten, die Urgroßenkel der Römer, hatte sich China nicht ausreichend an die alten Lehrstunden erinnert.
Nun wandelten Hexenmeister und Verführerinnen wie hungrige Geister durch das Königreich der Mitte, errichteten ihre Lügengebäude und ließen sich inmitten der Palastinseln von Phuket nieder. Brachten Frauen unter dem Schutz der beinahe abtrünnigen Beiyang Navy hierher.
Und alles drehte sich um diese Childress.
»Wang.«
Einer von Kôs Beamten
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