Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
dachte Kitchens über die Gerüchte nach, die kurz nach Silvester 1901 in Umlauf gekommen waren: dass Ihre Majestät in Osborne House an einem schweren Gehirnfieber erkrankt war. Die Details unterschieden sich leicht, doch alle möglicherweise verlässlichen Gerüchte stammten aus diesem Winter. Die ›andere Mrs Brown‹ hatte zu diesem Zeitpunkt im Buckingham Palace und an anderen Orten bereits jahrelang ihre Rolle gespielt.
Die Anzugträger beschäftigten sich jetzt mit Kitchens’ Schuhen. Eine Ferse war hohl, aber die dort verborgenen Dietriche ließen sich eher als nützlich denn als gefährlich bezeichnen. Dieser Mann kannte sicherlich jeden Trick, den auch Kitchens kannte.
Die Königin war seit dem Winter 1901 kaum noch gesehen worden. Ihre Doubles waren sichtlich gealtert, und das verdankten sie nicht nur der Magie der Theaterkunst, sondern auch einem gewissen Maß an brutalem Training. Doch das Getuschel in den Pausenräumen des Ripley Building, wo die Admiralität untergebracht war, ließ darauf schließen, dass viel mehr dahintersteckte.
Kitchens war bereits davon ausgegangen, dass er sich würde ausziehen müssen, aber stattdessen erwartete ihn ein kräftiger Handschlag, mit dem ihm sowohl das Rasiermesser als auch die Klaviersaite aus seinen Ärmeln entnommen wurden. Das geschah mit einer Anmut, die sonst nur die begabtesten Taschendiebe in Newgate erreichten, wenn sie einem Polizisten aus reinem Spaß sein Abzeichen stahlen.
»Sie erhalten sie zurück, wenn Sie uns wieder verlassen«, wurde ihm mitgeteilt.
Das Wort wenn wurde unmerklich betont. Niemand, den Kitchens kannte, hatte zugegeben, die Queen seit ihrer Erkrankung gesehen zu haben. Lloyd George natürlich, aber ein solcher Ausflug nach Blenheim Palace war weder bei den Sonderbeauftragten noch den ihr dienenden Offizieren in dieser Form bisher vorgekommen.
»Vielen Dank«, antwortete Kitchens.
Ein stiller, wütend dreinblickender Mann in einem MacGregor-Tartan tauchte am Palasteingang auf. »Dann mal rein mit dir.« Seine Stimme erinnerte an Felshügel und Schafsherden auf saftigem Grün.
Kitchens schritt bedächtig auf die großen, mit Schnitzarbeiten überzogenen Türen zu, immer im Bewusstsein, dass Pistolenmündungen auf ihn gerichtet waren. Keine umherhuschenden Bediensteten, keine hektischen Dienstmädchen, keine zeremoniellen Wachen – nur ein Palast, dessen Stille an ein Mausoleum erinnerte, umgeben von genügend Streitkräften, um einen Bauernaufstand abzuwehren.
Die englische Queen lebte irgendwo in diesen marmornen Hallen und träumte von einem Empire, das sich über die gesamte Welt erstreckte.
Der Mann im MacGregor führte ihn durch lange Korridore, die mit Musselintüchern verhängt waren. Man hatte Blenheim Palace abgeriegelt und zu einem Aufbewahrungsort für Staub und Erinnerungen gemacht. Zweimal sah Kitchens dunkle Schatten vor ihnen durch die Dunkelheit huschen. Als sie in einem der Korridore einen unerkennbaren Wechselpunkt erreichten, blieb sein Palastführer stehen, drehte sich zu ihm um und betrachtete ihn abschätzig. »Sag mir, was du weißt, Beamter.«
Kitchens nickte und schloss die Augen, um besser hören, fühlen und riechen zu können. Der Trick eines Sonderbeauftragten, der sich vom Licht der Welt abwendet, um die Dunkelheit besser erfassen zu können.
Hier drinnen bewegte sich die Luft nur wenig. In der Nähe klickte etwas in einem komplexen und komplett unregelmäßigen Rhythmus. Es war ungewöhnlich kalt, ungewöhnlich selbst für die innersten Räume eines so großen Gebäudes. Die Gerüche waren ebenso komplex. Ammoniak. Essig. Blut. Ein merkwürdiger, leicht an Fleisch erinnernder Gestank, wie eine in der Ferne noch zu erkennende Schlachterei im Sommer.
Er öffnete die Augen und sah dem Mitglied des Clans MacGregor in die wahnsinnig blickenden Augen. »In der Nähe befindet sich ein Leichenschauhaus. Oder ein Raum, in dem Vivisektionen durchgeführt werden. Es gibt andere Erklärungen, aber die ergäben weniger Sinn.«
»Wenn du hier auf der Suche nach irgendeinem Sinn bist, Junge, dann bist du am falschen Ort.« Der Mann räusperte sich und spuckte auf den Boden. »Hier hält der Wahnsinn fröhlich Hof, und mir ist es vollkommen egal, wer mich das sagen hört. Du bist der Erste, der seit den Silvesterfeierlichkeiten aus London hierhergekommen ist.« Er beugte sich zu ihm vor. »Was ist so besonders an dir?«
»Nichts, Sir.« Kitchens ging im Geiste bereits seine Fluchtwege durch. »Ich
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