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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Schach zu halten.
    Die meisten Leute besaßen die Intelligenz, Angst vor einer alten Frau mit stahlgrauem Haar und einem langen Lineal zu haben.
    Der Tag schleppte sich dahin, und Staub schwebte in den hellen Lichtstrahlen, die durch die hohen Fenster fielen. Der omnipräsente Geruch von Leder und Leim und Papier, die Schritte der Studenten und Pförtner, das Schimmern der dunklen alten Eichenbretter unter Generationen von Holzpflegeöl bildeten wie immer das pulsierende Herz der Bibliothek.
    Sie liebte diese Herbsttage, wenn das Semester gerade begonnen hatte, die Studenten sich aber noch nicht um ihre Arbeit sorgen oder Angst vor den Prüfungen zur Mitte des Semesters haben mussten. Die Bäume wechselten draußen ihre Farbe, während im Gebäudeinneren die schwindende Sommerwärme noch zu spüren war.
    Die Uhr auf dem Verwaltungsgebäude schlug zur dritten Nachmittagsstunde, als eine Frau auf ihr Pult zukam. Das war ungewöhnlich – es gab in Yale keine Frauen, abgesehen von einigen Spezialistinnen wie ihr selbst. Die Pförtner hatten in der Regel eine sehr klare Haltung zum schwächeren Geschlecht.
    Sie war keine Studentin. Vielleicht vierzig Jahre alt, hellbraune Haare und ein Gesicht, an das man sich nicht erinnern würde. Sie trug hohe Stiefel mit Knopfapplikationen und ein grünes Seidenkleid, dessen Reifrock leicht raschelte. Sie hatte sich einen weißen Pullover übergeworfen, um sich gegen mögliche Herbstkälte zu schützen.
    Die Schritte der Besucherin hallten in einem kontrollierten Rhythmus wieder, der die Gedanken Childress’ zum Rasen brachte. Ihre Arme schienen ein wenig dick zu sein, vielleicht sogar muskulös, so viel ließ sich durch die Seide erkennen. Ihre Augen hatten dieselbe hellgrüne Farbe wie ihr Kleid. Sie schweiften kurz durch den Raum und richteten sich dann auf Childress.
    Das war eine gefährliche Person, die es gelernt hatte, Gewalt auf eine Art und Weise anzuwenden, wie es Childress bisher nur selten bei Männern und schon gar nicht bei Frauen hatte beobachten können.
    »Emily McHenry Childress.« Weder Frage noch Begrüßung. Nur eine Feststellung.
    »Das wissen Sie bereits.« Ihre Stimme war so sanft, dass die Frau sich etwas bemühen musste, sie zu verstehen.
    »Das mag sein.« Ihr Akzent ließ auf London schließen, mit einem Hauch von Europa dahinter. Die Frau hob ihren Arm und berührte den Rand von Childress’ hohem, schmalem Pult. Etwas klickte unter ihrer Hand. »Heute.« Ihre Stimme klang genauso sanft. »Long Wharf, bei Sonnenuntergang.«
    Eine Feder aus feinstem Elfenbein blieb zurück, als sie sich entfernte.
    Das brachte schmerzliche Erinnerungen an die silberne Feder zurück, die ihr ein Junge vor gut zwei Jahren gebracht hatte. Er hatte vor ihr gestanden, mit den Tränen gekämpft und sich gefragt, warum er einen Engel des Herrn gesehen hatte und niemand sonst es wusste oder sich darum scherte. Sie hatte ihn im Namen der avebianco , der weißen Vögel, weitergeschickt.
    Sie hatte sich gefragt, wann sie an der Reihe war. Seit die Erdbeben aufgehört und die Zeit sich wieder beruhigt zu haben schien, hatte sie sich gefragt, ob sie gehen würde.
    Auch ohne die unterschwellige Drohung der Botin wusste Childress, dass sie dem Ruf gefolgt wäre.
    Im Lauf des Nachmittags durchschritt Childress die Hallen der Day Missions-Bibliothek. Sie brachte schweigend eine Entschuldigung nach der anderen vor, während sie von Raum zu Raum wanderte. Eine kurze Prüfung … ein verlorenes Buch … die Stärkung ihres Gedächtnistrainings. Im gewissen Maße sogar Nostalgie für die junge, überforderte Frau, die in ihrer ersten Anstellung nur wegen des Arbeitskräftemangels nach der Baumfällerrebellion geduldet wurde.
    Childress war sich sicher, dass sie nicht zur Bibliothek zurückkehren würde, wenn sie sich bei Sonnenuntergang auf der Long Wharf einfand. Die Botin hatte es nicht so ausgedrückt, aber es leuchtete ein, dass die avebianco wohl kaum jemanden den weiten Weg von Europa nach New Haven entsandt hatten, um sich in aller Ruhe eine Tasse Tee und Sandwiches zu gönnen. Man musste sich in die Dinge einarbeiten, um sie zu verstehen. Die wahren Kräfte der Gesellschaft waren praktisch unsichtbar, ähnlich wie die Boten Gottes in einer mondlosen Nacht – gespürt, aber selten gesehen.
    Ihr bisheriges Leben bestand aus wenig mehr als einem regelmäßigen Tagesablauf. Ihre größte Heldentat war vermutlich, den jungen Mann nach Boston geschickt zu haben. Sie könnte sich einfach

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