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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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auf denselben Weg begeben und schauen, wo er sie hinführte.
    All dem hatte sie sich ja verschworen, als sie vor vielen Jahren Mitglied der avebianco geworden war.
    Childress leerte ihr Stehpult. Wenn auch das gesamte Gebäude in gewisser Hinsicht ihr gehört hatte, so besaß sie doch selbst nur sehr wenig. Reverend Dr Dunleaveay war der Bibliotheksleiter, mit seiner Fellmütze und den Quasten und seinem Sitz in der Fakultät, aber es war Childress’ Aufgabe gewesen, neue Bücher zu entdecken, Spenden und Schenkungen entgegenzunehmen, zu katalogisieren, was sie neu erhielten und das, was in den Lagerräumen im Untergeschoss vor sich hin schimmelte. Sie hatte die Bücher ins Regal gestellt und umgestellt, wenn die sich verändernden Anforderungen der Studenten es nötig gemacht hatten.
    Andere Angestellte kamen und gingen. Verkniffene Kerle mit heimlichen Gewohnheiten, die den verspielten Jungen beim Rugby draußen auf dem Hof zu lange zusahen. Die gelegentliche Frau, die auf einen Antrag hoffte, um endlich Frau und Mutter zu sein. Sie war hiergeblieben, mit der Bibliothek verheiratet, als Mädchen und als Frau, fast vier Jahrzehnte lang.
    Und immer noch hatten die weißen Vögel sie bei sich behalten. Childress erinnerte sich daran, wie sie die erste Feder erhalten hatte – in einem dünnen Band eines unbekannten Dichters, der an sie adressiert gewesen war. Darin fand sie Vermerke, die auf Straßburg in den Deutschen Landen Ihrer Kaiserlichen Majestät hinwiesen. Im sechsten Jahr ihrer Arbeitszeit in der Bibliothek, 1877, hatte der Meister Humberto ihr endlich das Privileg eingeräumt, neue Bücher zu katalogisieren. Im selben Monat war dieser Band eingetroffen, als ob er als ein Zeichen gemeint war.
    Was natürlich stimmte.
    Bibliothekarin zu sein bedeutete, alles zu wissen, was es zu wissen gab. Es ging nicht sprichwörtlich darum, das gesamte Wissen der Menschheit auf Abruf zu halten – vermutlich war Newton der Letzte gewesen, der dies für sich hatte beanspruchen können. Aber zu wissen, was man wissen konnte , die Hinweise und Passwörter zu allen Geheimnissen der Schöpfung. Die Wissenschaft der Bibliotheken war die Wissenschaft der Wahrheiten, die sich in der Welt versteckten. Sie hatte sich sogar die Ars memoriae des Simonides von Keos beigebracht und die Bibliothek zu ihrem Gedächtnispalast gemacht.
    Die Bibliothek und ihre Arbeit waren ihr Leben, nach innen und nach außen, abgesehen von dem Platz, den Gott in ihrem Herzen einnahm. In diese Welt waren die weißen Vögel eingedrungen, erst mit Knittelversen über die Eitelkeiten der Schöpfung und denjenigen, die sich an Gottes Stelle begaben. Später folgten weitere Bücher, Briefe, geflüsterte Worte. Die avebianco waren in Bibliotheken auf der ganzen Welt vertreten, von den Bürokraten des Kaiserlichen China in ihren smaragdgrünen Hüten über die ungehobelten Archivare von Schifffahrtsunterlagen bis hin zu den Universitätsbibliothekaren des Britischen Empire.
    Childress sah auf und merkte, dass der Hauptpförtner sie aufmerksam musterte. Cletis Barrons düstere Miene wirkte zugleich besorgt. »Niemand hat mir gesagt, dass Sie gehen.« Seine Stimme klang so tief und sanft wie ein Schiffsnebelhorn draußen in der Meerenge.
    Sie versuchte zu lächeln. »Mir hat das auch niemand gesagt.«
    »Eine Frau, die ihre Federn und ihr Messer mit sich nimmt, die kehrt nicht zurück.«
    »Ich werde Sie vermissen«, sagte Bibliothekarin Childress bestimmt.
    »Wir werden Sie auch vermissen, Madam. Wir auch.«
    Damit brachte er sie zur Tür. Als sie nach draußen trat, senkte sich bereits die abendliche Kühle auf die Stadt. Sie hatte ihren Mantel vergessen, aber Barron reichte ihn ihr. »Gehen Sie mit Stolz«, sagte er.
    Sie nickte, und Worte, die sie aussprechen wollte, entwanden sich ihrem geistigen Griff wie Fische in einem klaren Bach, die sie nicht zu packen bekam. Sie machte sich auf den Weg zur Long Wharf. Sie fragte sich dabei, ob Reverend Dr. Dunleavey überhaupt bemerkte, dass sie nicht mehr da war.
    Und das, so bemerkte Childress mit einem traurigen Zittern, war vermutlich die zutreffendste Zusammenfassung ihres Lebens.
    New Haven war mit dem zweifelhaften Segen seichter Ankerplätze ausgestattet. Das Problem hatte man mit der Long Wharf gelöst. Das Bauwerk erstreckte sich von der Hafenwestseite über das Watt hinaus bis zum Tiefwasser. Sechs Luftschiffmasten standen recht nah an der Küste. Sie ragten zwischen den kleinen Booten, Skiffs und

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