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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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unrecht.«
    Mr H. lachte schallend. »Mein lieber Junge«, sagte er, »diese Psychopathen hätten das Türschloss zerschossen und in zwei Sekunden die Alarmanlage selber ausgeschaltet. Sie hatten die Situation ausspioniert.Es war mit Sicherheit nicht Ihre Schuld. Es waren die Waffen der Gangster, die Mr Applegate getötet haben.«
    »Ich bin kein bisschen schuld daran?«, fragte ich Mr H.
    »Kein zehntel Prozent von hundert«, sagte Mr H. »Was ist dann passiert, Oscar?«
    Ich beendete meine Geschichte. In meinem Herzen tat sich ein winziges, taghelles Fenster auf, das einen Augenblick zuvor noch nicht da gewesen war. Ein kleiner Gedächtnissplitter tauchte aus dem Nichts auf. Plötzlich erinnerte ich mich an die Stimme eines der Bankräuber, der einen Namen rief.
    Ich nannte Mr H. den Namen und er notierte ihn. »Es war Mackey oder McKey. Oder so ähnlich. Jemand richtete eine Pistole auf mich. Ich hörte, wie der Schuss abgefeuert wurde, aber ich war schon gesprungen.«
    »Gesprungen?«
    »Ja. Ich hab die Augen fest zugemacht und den Atem angehalten, als würde ich kopfüber ins Blaue springen. Ich landete auf der Modelleisenbahn, aber sie konnten mich nicht sehen, weil ich schon so klein wie die Zinnleute auf der Anlage war. Ich habden nächsten Zug genommen und bin dann in Chicago umgestiegen. Als ich im Golden State Limited aufgewacht bin, fühlte ich mich völlig zerschlagen, als wäre ich aus dem Fenster eines Wolkenkratzers gefallen. Aber tatsächlich war nichts gebrochen oder geprellt. Da habe ich Dutch kennengelernt. Er lag in der Koje unter mir.«
    Dreimal ließ mich Mr H. die Geschichte von Anfang bis Ende wiederholen. Jedes Mal erinnerte ich mich an ein paar Dinge mehr, aber die Erinnerung an den Bankraub als Ganzes stand nur am Rand meines Gesichtsfelds.
    »Ihre Geschichte würde sich gut für einen Film eignen«, sagte Mr H. mit einem unglücklichen Seufzer, »aber leider verfügen wir noch nicht über die Spezialeffekte, um sie glaubhaft darzustellen. Es wäre dasselbe, wie wenn man den Untergang der Titanic mit einem Drei-Meter-Modell in einem Studiobassin filmt. Ein schrecklicher Film!«
    Er stand auf und nahm sein Glas. »Ich muss gehen, Oscar. Alma und ich sind zu einer sehr langweiligen Cocktailparty eingeladen. Lieber würde ich Ihnen noch länger zuhören. Aber auch Ihr Vater möchte unten mit seiner Arbeit an der Modelleisenbahnfertig werden.« Er streckte mir seine Hand hin, und während er mir die Hand schüttelte, beugte er sich vor und flüsterte mir ins Ohr: »Ich persönlich«, sagte er, »glaube, dass du wirklich noch immer elf Jahre alt bist, Oscar. Und dass es dir tatsächlich gelungen ist, einen Lionel-Zug zu besteigen.«
    »Sie glauben mir?«, fragte ich.
    »Natürlich! Sieh dir deinen Haarschnitt an. Kein Zwanzigjähriger hat einen Jungenhaarschnitt mit einem steilen Haarschopf wie ein Zeltpfosten! Haarlocken legen sich im Verlauf der Pubertät.«
    »Ihr Lieben!«, rief Alma von oben. »Wir kommen zu spät!«
    Mr H. stürzte die Treppe hinauf, viel schneller, als ich ihm das zugetraut hätte.
    Unten im Keller war mein Dad dabei, Christopher Crawfords Hängebrücke instand zu setzen. »Die Reparatur der Brücke wird Stunden dauern, Oscar«, sagte Dad. Er reichte mir eine Spitzzange.
    Ich betrachtete den Schaden, den ich mit meinem Sprung in die Anlage angerichtet hatte. »Ich fühle mich wie ein Vollidiot, weil ich alles kaputt gemacht habe, Dad«, sagte ich.
    Dad grinste mit einem Stück Kupferdraht zwischen seinen Lippen. Er sah an mir hinunter. Ich war von Kopf bis Fuß bandagiert, mit einem Pflaster auf dem Knie und einem Gazeverband an der Hand. »Scheint, als hättest du dich selbst noch mehr beschädigt«, sagte er. Er hatte ein ganzes Werkzeuglager vor sich auf dem Tisch. Kleine Schraubenzieher, Spezialzangen und Klebstoff. Er nahm eine kleine Zwinge und hielt damit einen der Pfeiler fest, während er ihn wieder zusammenklebte.
    »Wie in den alten Tagen, mein Junge«, murmelte er glücklich.
    Wir arbeiteten Seite an Seite im Keller, bis die Anlage allmählich wieder Gestalt annahm. Gipsschichten mussten über dem Drahtgeflecht der Uferbefestigung trocknen, wo mein Fuß das Ufer des Colorado River ruiniert hatte. Wie ein Juwelier setzte ich eine Unzahl winziger Glasscherben zusammen, um die Denver Union Station wiederherzustellen. Meine großen Finger waren mir im Weg.
    Plötzlich zwinkerte Dad mir zu. »Lass den Gips trocknen, Oscar«, sagte er. Er zündete sich eine Zigarre

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