Die Rättin
Kassetten den Markt bedienen, zu unserem lieben Geburtstagskind sagen kann: Es ist alles gefilmt! Aus mediengerechter Gewißheit zähle ich auf: wieviel uns das Schicksal aufs Konto schrieb, was uns Erinnerung nachträgt ob altvertraut eingefärbt oder mit Gerüchen gesättigt, die einst unserer Nase neu waren -, was wie Kinderbrei, Hochzeitsbraten, Leichenschmaus schmeckte, uns aufstieß, Hunger nach mehr machte; dieses unverdrossene Eswareinmal ist gefilmt. Aber es sind unsere Hoffnungen auch, die sich zukünftige Farben, Gerüche, neuen Geschmack wünschen, dazu Gefühle, die nicht altgewohnt, sondern blank sind, den Medien gefällig geworden und liegen, Kassette neben Kassette, als Filme vor. Ich sagte bereits: Es ist alles gefilmt! Was immer wir neu zu erleben meinen, lief schon vor Publikum andernorts und machte Geschichte, bevor es tatsächlich wurde. Weshalb wir, meine lieben Verwandten, die wir fest glaubten, einander zuvor nie gesehen zu haben so weitverzweigt grünt unser kaschubisches Kraut -, uns dennoch sattsam bekannt sind, vertraut aus älteren Filmen, die noch schwarzweiß flimmerten, in denen wir andere Feste feierten; es fanden sich jederzeit Anlässe genug: traurige und solche, die uns vergnügt machten. Und neuer Anlaß bietet sich schon demnächst, wenn Euer Oskar seinen sechzigsten Geburtstag feiern wird. Herzlich lade ich alle, doch zuallererst Sie, verehrte Großmutter, liebe Babka, zu einem Fest im September ein, das mir schon jetzt, als liefe ein Film, vor Augen steht: wie es beginnt, sich steigert, seinen Höhepunkt sucht und sich in vielen Nebenhandlungen verliert...«
Noch während ihm Beifall für diese Einladung in den so fernen Westen dankt, spricht unser Herr Matzerath weiter: »Wie man sieht, hat uns die Welt wenig Neues zu bieten, allenfalls werden wir so oder so und überraschenderweise mal andersrum arrangiert, wie jene Schlümpfe, mit denen selbstvergessen die Kinder spielen. Ja doch! Vorfabrizierte Schlümpfe sind wir, die in besonderer Anfertigung nicht alles muß aus Hongkong kommen! auf Erwachsenenmaß gebracht wurden, um in tausend und mehr Filmen, mal so, mal so kostümiert, ihre erprobte Rolle zu finden; hier in heitere, oft genug alberne, dort in traurige, zumeist tragisch endende, mal auf Spannung versessene, dann wieder ermüdend breite Handlungsabläufe verwickelt, die wir für des Lebens Abglanz halten, wenngleich sie vorproduziert wurden, gefilmtes Leben sind, dem wir nachhecheln, ängstlich bedacht, keine Kuß-, keine Prügelszene zu versäumen. Was sage ich: wenig neue Erkenntnis! Kalter Kaffee mehrmals getischt! Schon unseres lieben Geburtstagskindes einzige Tochter Agnes, meine arme Mama, rief immer wieder, sobald sich um ihren Tisch Freunde zum Skatspiel um Pfennige versammelt hatten: Das Leben ist wie ein Film!«
Mit Einsichten dieser Güte werden die von nah und fern angereisten Kaschuben bedacht. Die Arbeiter von der Leninwerft und die Vertreter von Polens Kirche und staatlicher Post staunen mit zustimmendem Kopfnicken: Ist denn das Leben nicht wie ein Film, den man kennt? Mußte das polnische Leid nicht immer wieder gelöffelt werden ? Und hat man nicht allzeit bänglich geahnt, wie es krumm oder geradewegs weitergehen würde?
»Hast ja recht, Oskar!« ruft Stephan Bronski. »Is is, wie is war ond jewest is.«
Vorm blumengeschmückten Lehnstuhl und in dessen Rücken spielen die nachgewachsenen Kaschubenkinder aus den verkrauteten Trieben Woyke bis Stomma mit den vielen niedlichen Schlümpfen, die unser Herr Matzerath neben dem Baumkuchen, der Polaroidkamera und den Golddukaten aus dem reichen Westen gebracht hat. Alle Schlümpfe sind weißbemützt über sattblauen Kugelbäuchen und Knollennasengesichtern. Die meisten grinsen, als gebe es Anlaß in Fülle, doch sieht man auch schmollende, einsame, tieftraurige Schlümpfe. Jeder Schlumpf trägt ein Werkzeug oder eine Last, ist beschäftigt. Einige haben Sportartikel zur Hand, andere mampfen Buttercremetorte. Der eine Schlumpf hält rechts die Maurerkelle, hebt links den Ziegelstein, der nächste schwingt die Axt. Mit seinem Schraubschlüssel ist einer der Schlümpfe Maschinenschlosser, ein anderer verkörpert mit Sense und Getreidegarbe den Bauernstand. Dieser hier regelt mit weißrotem Stopzeichen den Verkehr. Ein Schlumpf hat sein Vesperbrot angebissen, dieser kriegt nicht die Flasche vom Hals. Alle sind tätig, nur ein Schlumpf steht mit nichts in der Hand. Arbeitslos hält er die Augen verschämt gesenkt.
Weitere Kostenlose Bücher