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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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kommen, is alles jewest ond jewest.«
Wie zur Bestätigung des Satzes von der ewigen Wiederkehr ruft nun im laufenden Videofilm unser Herr Matzerath seine angekündigte Überraschung aus: die Post-Futurum-Produktion seiner auf Vorausschau spezialisierten Firma. Und schon sehen die Geburtstagsgäste, wie der Chauffeur ohne Mütze und der Werftarbeiter den Fernsehapparat in die Gute Stube tragen und auf das bereitgestellte Tischchen vor das Schutzengelbild stellen; so sind sie zu zweit vorhin noch tätig gewesen, bevor die eingebaute Batterie den Spezialrecorder zu speisen und die Kassette zu unterlegter Polkamusik abzulaufen begann.
Doch wie nun im Film abermals der Film beginnt und zuvor der Kuckuck halb zwölf ruft, wie er in Wahrheit sogleich zwölfmal rufen wird, verstummen die Geburtstagsgäste in der Guten Stube. Kein Ahhh, Seufzen und trockenes Lachen mehr. Entsetzt und vor Entsetzen starr sieht die Geburtstagsgesellschaft auf dem Bildschirm, wie sich alle einen Videofilm anschauen, der eine Geburtstagsgesellschaft zeigt, die sich fröhlich und guten Glaubens einem Videofilm aussetzt, den der Prälat aus Oliva vorhin noch lächelnd als technische Version göttlicher Vorsehung hinnahm, doch nun mit Hilfe geschlagener Kreuzzeichen zu bannen sucht, weil des Filmes Handlungsverlauf folgerichtig...
Da ruft auch noch in der wirklichen Guten Stube, als sei sie dem Teufelswerk beigesellt, jene aus Gelsenkirchen angereiste Kuckucksuhr, die neben dem päpstlich signierten Herz-JesuBild ihren Platz fand: Kuckuck Kuckuck... zwölfmal. Sogar unser Herr Matzerath erschrickt im maßgeschneiderten Anzug. Wie im Film nestelt er in Wahrheit an der Krawattennadel. Und wie er wahrhaftig voller Bedenken ist, sieht er sich, als sähe er sich zum letztenmal, auch im Film nun bedenklich...
    Befrachtet von bleifüßigen Gedanken sind auch die Frauen an Bord des Küstenmotorschiffes »Die Neue Ilsebill«. Zu lange lagen sie in den Hängematten. Sie haben verschlafen. Zeit wurde versäumt; denn wie sie sich in ihren Schlafplünnen auf Deck finden, ist es schon später Sonntagmorgen. Hoch steht die Sonne über der östlichen See, auf der kein Gesang mehr liegt. Von allen Medusen verlassen, tröstet sie, daß weitab, in Richtung Peenemünde, das Motorboot der DDR-Grenzpolizei gleichfalls vor Anker liegt, als wolle es den fünf Frauen bedeuten: Kopf hoch, Mädels! Ihr seid nicht allein.
Einzig die Meereskundlerin ist wacher als die anderen, deren torkelige Saumseligkeit sich in Gähnen und Gliederstrecken erschöpft. Sie läuft das Schiff backbord und steuerbord ab, beugt sich immer wieder, schirmt, während sie vom Bug, dann vom Heck auf die glatte, kaum atmende See schaut, mit beiden Händen die Augen ab und ruft: »Kinder, wacht auf! Wir sind da! Ich werd verrückt! Unter uns Vineta!«
Nun hängen sich alle über Bord und bilden mit den Händen lichtabschirmende Tunnel. Die Maschinistin will nicht glauben, was sie sieht. »Das is ja«, ruft sie, »ganz unwahrscheinlich, aber toll. Das hab ich schon mal, weiß nicht wo, gesehen.«
»Mann!« ruft die Alte. »Nicht nur sieben Kirchen, ich seh auch Kneipen, genauso viele oder noch mehr.«
Die Steuermännin will anderes als nur die versunkene Stadt sehen. »Das ist es«, sagt sie. »Da wollen wir hin.«
Und auch die Meereskundlerin glaubt, nun seien sie angekommen: »Ich hab es gewußt oder geahnt, immer schon, daß wir irgendwann, weil woanders kein Platz ist...«
Doch greifbarer noch als die anderen Frauen sieht die Steuermännin das Frauenreich offen, als könne man alle Räume sogleich bewohnen. Gastlich liegt es bereit, ihren so lange gewärmten, wie eine Leibesfrucht ausgetragenen, nein, übertragenen Wunsch zu beherbergen; denn tatsächlich breitet sich unter ihnen, reich an Türmen, Giebelhäusern und Plätzen, das wendische Jumne, die Stadt Vineta, ihre endliche Zuflucht, das uneingestandene, oft umstrittene und dennoch vorbestimmte Ziel ihrer Reise.
Warum schweigt Damroka und guckt nur und guckt? Wie heimisch in seinem Gassengewirr Vineta ist. Die Stadt liegt an einem Fluß, der eine Insel bildet, auf der hohe und breite Speicher hinter Fachwerk Reichtum versprechen. Brücken über den Fluß münden in Tore. Ein wenig hochmütig, immer noch, vergleichen sich von Gassenseite zu Gassenseite geschmückte Fassaden gegiebelter Häuser. Vielfältig gestufte Simse. Beischläge vor den mit Säulen flankierten Türen. Hier ziert ein Schwan, dort ein güldener Anker, hier eine Schildkröte,

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