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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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polnisch-katholischen Ratten die ehemalige Dominikanerkirche den Protestanten freigeben. Gleich zänkisch beanspruchten deutschstämmige Ratten die Birgittenkirche sowie Sankt Katharinen für sich.
Aber, rief ich ins Durcheinander, wo bleibt denn die Nächstenliebe, verdammt noch mal! Ein bißchen mehr Toleranz, wenn ich bitten darf.
Da hatte ich alle drei gegen mich. Soweit komme es noch, daß dieser letzte Mensch den Ratten Benehmen beibringen wolle. Dem reiche wohl seine Raumkapsel nicht. Der solle sich raushalten. Welch eine Anmaßung! Zu allerlei sei das Menschengeschlecht fähig gewesen, nur nicht zur Toleranz. Dann stritten sie wieder selbdritt und fanden, so sah es aus, Vergnügen dabei. Doch wie sie ihren Glaubensstreit fortsetzten, waren es nunmehr vier, dann fünf Rättinnen, die sich in den Haaren lagen, ineinander verbissen. Soweit ich verstand, hatten sich die Protestantischen gespalten, und bei den Orthodoxen gab es urchristlich-kommunistische Abweichungen. Das kam der Polnisch-kaschubischen doch welche war die Katholische? zupaß. Sogleich forderte sie die niederstädtische Barbarakirche zurück und selbstverständlich die ehemals königlich-polnische Kapelle neben Sankt Marien, die absurderweise von der vierten Rättin für calvinistische Zusammenrottungen beansprucht wurde, während sich die kommunistischen Urchristen die Jakobskirche nahe der ehemaligen Leninwerft als Versammlungsort wünschten.
Na gut, sagte ich, es sind ja, verdammt nochmal, Kirchen genug da. Doch schön wäre es, wenn es auch frommen Ratten endlich gelänge, in jeder Kirche, von allen Kanzeln wenn schon nicht Toleranz, dann Liebe, ratzekahl Nächstenliebe zu predigen.
Abermals hatte ich alle, jetzt fünf Rättinnen, gegen mich. Altbekannt kam mir meine Lage vor: Erfahrungen bis zum Überdruß. Ich suchte Vergleiche, wollte das mit Frauen bemannte Schiff in den Traum zwingen, rief aber gänzlich verratzt immer nur Nächstenliebe, verdammt! Ein bißchen mehr Nächstenliebe!
Hohngelächter als Antwort. Die müsse man Ratten nicht predigen. Die sei unter Ratten üblich seit Rattengedenken. Einzig das Menschengeschlecht habe sich Nächstenliebe zum Gebot machen müssen, unfähig, es einhalten zu können, wie sich gezeigt hätte. Anstelle seien Totschlag und Folter erdacht und in stetig verbesserter Form entwickelt worden. Es solle doch, rief eine der fünf Rättinnen, dieser letzte Mensch in seiner Raumkapsel endlich die Klappe halten.
Als ich dennoch Einspruch erhob und mit anders wirklichen Träumen drohte noch hält unser Herr Matzerath eine Überraschung bereit, noch ankert das Schiff über Vineta, immer noch dauert tiefer Dornröschenschlaf und nimmt den Kanzler und sein Gefolge gefangen -, lachten, so hörte ich, alle fünf Rättinnen; doch nur eine, wahrscheinlich die katholische, rief: »Hau ab! Verzisch dich in deine Geschichten. Was brauchen wir dich! Es lebt ja noch die Uralte in ihrem Lehnstuhl und brabbelt und brabbelt und kann nicht sterben...« Da stritten sie wieder. Doch diesmal ging es nicht um die Nutzung heil gebliebener Kirchen in der geschonten Stadt. Nicht mehr wie von Kanzeln herab, vielmehr in wüstem Durcheinander, auf einem Müllhaufen aus Porzellanscherben, spielzeugkleinen Figürchen und achtlos verworfenen Münzen stritten sie um jene alte Frau, die sterben wollte, aber nicht konnte, die mir bekannt vorkam, so heftig ich mich weigerte, die Alte beim Namen zu rufen; erst wenn du sie ansprichst, sagte ich mir, ist sie wirklich verloren.
    Wie zum letztenmal spricht unser Herr Matzerath. Er klatscht in die Händchen, deren Finger zu viele Ringe zeigen; sein Zwang, Regie führen zu müssen. Auf einem Stuhl, damit er sprechend gesehen wird, unter niedriger Stubendecke bittet er um etwas, und sogleich wächst um ihn, der erhöht steht, Aufmerksamkeit.
Endlich spricht Oskar im Kreis weitläufiger Verwandtschaft und von nicht verwandten Gästen umgeben. Man blickt zu ihm auf. Er spricht von sich, der Welt und von sich. Oft genug hat er vor mir, als müsse er üben, diese Rede gehalten. Seit langem schon haben sich Sätze in ihm gebildet, die der Menschheit zugedacht sind, letzte Worte sozusagen.
»Sehen Sie in mir, bitte, jemanden«, sagte er, »der im trügerisch reichen Westen einer mittelgroßen Firma vorsitzt, deren Management allen medialen Möglichkeiten rechtzeitig Aufmerksamkeit schenkte und eine dergestalt vielseitige Produktion anlaufen ließ, daß ich heute, nachdem wir mit tausend mal tausend

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