Die Rättin
So spiegeln alle Schlümpfe, mit denen die Kaschubenkinder spielen, während Oskar den Film als vorproduziertes Leben preist, das betriebsame Menschengeschlecht.
»Wie schön«, sagt unser Herr Matzerath, »wieder im Kreis der Familie weilen zu dürfen. Sogar eure Krankheiten sind sich treu geblieben. So gut wie nichts hat sich verändert. Nun ja, die Politik. Doch auch die haben wir schon gehabt. Und daß wir Menschlein älter werden, ist eine Einsicht, die in meinen Videofilmen durchaus vorbedacht worden ist. Wie ich schon sagte: Alles was stattfindet, findet wiederholt statt, geringe Veränderungen und modische Neuigkeiten einbegriffen. Wir, die hier verwurzelten und alle weithergereisten Kaschuben sind bestes Beispiel für meine These, weshalb ich euch, zuerst aber Ihnen, liebe Babka, eine besondere Videokassette zur Ansicht bringen möchte, die ein wenig Zukunft vorgekostet hat und meinem Programm entspricht, das unter dem Markenzeichen Post Futurum demnächst weltweit verbreitet sein wird.« Und schon trägt der Chauffeur Bruno mit Hilfe eines Werftarbeiters einen Kasten mit geräumiger Mattscheibe in die niedrige Gute Stube. Rasch wird ein Tischchen beigebracht und vor die Wand gestellt, Anna Koljaiczek gegenüber. Der Fernsehempfänger, dem ein Videorecorder angeschlossen ist, verdeckt den bestickten Wandbehang, dessen Motiv einen Engel zeigt, wie er ein Kind vorm Sturz in den Abgrund schützt. Der Kuckuck ruft neben dem Herz-Jesu-Bild, weil es halb zwölf ist.
Da füttert der Chauffeur die angekündigte Videokassette in den Recorder ein. Lachend, aus kleinen Gläsern trinkend, doch immer auch dem Weinen nah, insgesamt lebenslustig und gottergeben gruppieren sich die Geburtstagsgäste links und rechts vor dem mit Pfingstrosen geschmückten Lehnstuhl, den der Prälat und der Postsekretär flankieren. Die Kaschubenkinder lassen von den Schlümpfen ab und hocken, liegen, stehen vor den Erwachsenen. Alle gucken auf die noch blinde Mattscheibe, als sei eine Marienerscheinung angesagt. »Oskarchen!« ruft Anna Koljaiczek, »mechts miä woll ieberraschen?« Da läßt der Chauffeur Bruno, auf ein Zeichen unseres Herrn Matzerath, der bescheiden beiseite steht, die vorproduzierte Kassette ablaufen. Zuerst füllt den Bildschirm der Titel: »Der hundertundsiebte Geburtstag der verehrungswürdigen Anna Koljaiczek, geborene Bronski.« Wie aber mit ersten Bildern das kleinbäuerliche Häuschen der Großmutter samt Kastanienbaum, Apfelbäumen, dem Gartenzaun und den in diesem verregneten Sommer niedrig stehenden Sonnenblumen, dann, hinterm Zaun, die gedeckte Festtafel und erste Festgäste, zwischen ihnen Mister und Lady Bruns, die Mattscheibe beleben, tatsächlicher noch: wie sie zugreifen, hier Piroggen, dort Mohnkuchen verputzen, findet sich die gedrängt stehende Geburtstagsversammlung in einem gemeinsam staunenden Ahhh, das seufzend in Stille übergeht, sobald nach einem Zwischenschnitt, der die aus Kornblumen geflochtene Zahl hundertundsieben über der Haustür zeigt, zuerst die Küche, dann die gestopft volle Gute Stube ins Bild kommt, wobei das Geburtstagskind vorerst verdeckt, ausgespart bleibt; doch jene Kerzen, die vorhin noch brannten, dann ausgepustet wurden, brennen vollzählig.
Und alle Gäste sind im Film vorbemerkt: Der Prälat aus Oliva und der Priester aus Matarnia; beide Vertreter des Staates Polen, die leider gestern schon abreisen mußten, und die immer noch anwesende Delegation von der Leninwerft. Sogar der verspätete Postsekretär kommt ins Bild. Eines jeden Gastes Gegenwart zeigt sich vorproduziert: wie laut und herzlich die Colchics aus Amerika die Woykes aus Zukowo begrüßen. Wie oft die Stommas aus Gelsenkirchen mit Stephan Bronski und dessen stets grämlich beiseitestehender Frau anstoßen. Was der Hotelmanager Kasy Kurbiella aus dem Englischen der Vikings ins Polnische übersetzt, damit das australische Eisenbahnwesen dem Eisenbahner Antek Kuczorra aus Kokoschken bekannt wird. Wie stolz der Spielzeugfabrikant aus Hongkong auf seine fernöstliche Frau und das geschenkte Porzellanpferd ist, die beide von der Videokamera bis in den fliegenden Schweif und die Pagenfrisur vorgeahnt wurden. Ach, wie zerbrechlich Lady Bruns im Film und in Wirklichkeit ist! Sogar die Kaschubenkinder haben, schon als diese Kassette produziert wurde, Geburtstagskerzen ausgeblasen und mit Schlümpfen aus dem reichen Westen gespielt, bevor sie tatsächlich Kerzen auspusten und mit Schlümpfen spielen durften. Stephan
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