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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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schreitet voran. Zuletzt, als sei diese Reihenfolge mit mir besprochen, tritt Damroka im safrangelben, weitärmeligen Gewand auf, über das, doppelt gereiht, die Kette aus rohem Bernstein und ihre unendlich gelockten Haare fallen. Zum gepluderten Hosenrock hat sich die Maschinistin einen fahnenroten Turban gebunden. Nie hätte ich gedacht, daß der Steuermännin zur schwarzen Robe ein weitkrempiger, zudem weißer Hut stehen könnte, den sie schief und nach vorn geneigt trägt. Es ist schon erstaunlich, wie mädchenhaft die Alte im kleingeblümten, schwingenden, knielangen Kleidchen treppauf springt, geblümte Spangenschuhe an den Füßen.
Und was mir sonst noch auffällt: schwersilberne Gehänge auf schwarzer Robe; eine grün schimmernde Perlmuttspange gibt dem Turban Halt; der Lackgürtel zum Schlitzrock; die Straßbrosche am Kleingeblümten; wie sie den Niedergang hochkommt und das Safrangelbe rafft, sehe ich, daß Damroka hochschäftig schwarze Stiefel trägt.
Ohrringe, Ohrclips, das Korallenkettchen, der gewichtige Armreif. Täschchen oder engmaschig gehäkelte Beutel, mit dem Notwendigsten gefüllt, tragen sie bei sich. Alle haben sich bleich geschminkt oder Rouge aufgelegt, die Wimpern getuscht oder wie es der Steuermännin gefiel den Brauen schmerzlichen Ausdruck gegeben.
Die Frauen verweilen noch ein wenig. Obgleich die Zeit drängt, gehen sie auf Deck auf und ab, als wollten sie niemandem außer sich gefallen. Wie kostbar und unersetzlich! Mir ist, als hätte ich sie anderswo etwa im Film? so einmalig unvergeßlich gesehen. Heiliger Fellini! Diese Armbeuge, dieser Halsansatz, diese müden, tragischen und doch fordernden Blicke. Gesten, weitschweifend oder nach innen gewendet. Vom Steuerhaus zum Bug schreiten sie hin und zurück. Die Alte tänzelt. Die Meereskundlerin verliert einen Ohrring, den Damroka findet. Wie ein Denkmal steht mit Hut die Steuermännin, während in Pluderhosen die Maschinistin ums Denkmal herum groteske Sprünge macht. Was ich erhofft, doch nie für möglich gehalten habe: sie grüßen einander, lächeln sich zu, nehmen sich wahr, sind sich schwesterlich gut. Da sagt Damroka: »Jetzt wird es Zeit.«
Doch wie die Frauen noch einmal steuerbord backbord, von ihren Händen gegen das Mittagslicht abgeschirmt, in die Tiefe der See schauen, ist Vineta zwar immer noch da, doch es kommt ihnen vor, als seien die Gassen der versunkenen Stadt belebt. Sie sehen huschende Schatten. Nur Lichtreflexe? Nein, keine Trugbilder oder Spiegelungen. Weder Stichlinge noch Heringsschwärme. Ratten sind es, die gasselaufen, Vineta bewohnen, ihr Reich errichtet haben. Geschäftig durch alle Tore zum Rathausmarkt hin. Aus dem Frauenhaus raus, ins Schöffinnengericht hinein. Ratten, die in die vielen Kirchen Vinetas strömen oder nach dem Kirchgang vor den Portalen verweilen. Um den Neptunsbrunnen, über Brücken zur Speicherinsel, auf Beischlägen, vor Zunfthäusern, Treppen rauf runter, die Türmchen und Türme hoch: überall Ratten. Sie paaren sich mit dem Giebelschmuck, mit der Gans, der Schildkröte, den Truthähnen. Auf den Dachreitern der Hauptkirche, bis zur Turmspitze des Rathauses, so hoch hinaus, bis knapp unter die glatte Haut des Baltischen Meeres sind sie greifbar nahe, faßlich mit spielenden Witterhaaren, als wollten die Ratten den Frauen an Bord des Schiffes bedeuten: Wir sind schon da. Vineta ist besetzt, vergeben, behaust. Keine menschliche Herrschaft, kein Frauenreich findet hier Platz; es sei denn, ihr wolltet Zuflucht bei uns suchen und fortan unter Ratten sein. Kommt doch, kommt...
Doch kaum haben die Frauen begriffen, daß ihnen auf dieser Welt kein Ort ist, es sei denn, sie ließen Abscheu nicht zu, riefen nicht, was sie auch jetzt wieder kreischen: »Ihhh!« und »Wie ekelhaft!«, sondern zögen stumm und festlich, wie sie gekleidet sind, zu den Ratten, um fortan unter Ratten zu sein, kaum, sage ich, ist den Frauen deutlich geworden, daß nirgendwo Zuflucht mehr ist, doch sie springen nicht Springt doch! -, sie springen nicht, da zerreißen nahbei und entfernt Blitze den Himmel. Nie gesehenes Licht. Sie sind geblendet. Hitze haucht sie verzehrend an. Sie vergehen. Wo ich hindeute, suche, ist nichts mehr.
Südöstlich und westlich des Ankerplatzes und hinterm nördlichen Horizont wachsen die oft beschriebenen Pilze. Drei nahbei plazierten Schlägen sie gelten Stralsund, Peenemünde, entfernter Stettin und blendenden Blitzen folgen Druckund Hitzewellen. Mit den Frauen sind die Aufbauten des

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