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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Arbeitsessen; weshalb unser Herr Matzerath zum Film vorwarnend sprach: Die Welt beginnt aus den Fugen zu gehen, doch überall wird hörbares Knacken als Materialermüdung erklärt, mit der man leben müsse.
Daß die Menschen ihr Ende kommen sahen, aber sagten: Es wird sich wohl nicht vermeiden lassen, nahm die Rättin unter Bedauern zur Kenntnis; machte ihn aber weiterhin zornig, als hätte er Hoffnung vorrätig gehabt: Seht ihr denn nicht, ihr Toren, daß es in eurer Hand liegt, jetzt, kurz vorm Abgrund...
Ach, rief die Rättin, wie waren wir ihnen zugetan! Gaben wir nicht warnende Zeichen genug?
Habt ihr, beschwor Oskar noch einmal das Menschengeschlecht, die Ratten nicht laufen, am hellen Tag laufen, euch warnen sehen?
Auch anderes Getier, erinnerte sich die Rättin von der Kanzel der Marienkirche herab, gab Angst zu erkennen. Aber es wollte der Mensch sich nicht ängstigen.
Nach letzten Meldungen, sagte Oskar, spricht nicht der beredte Fisch, vielmehr beginnen in Schwärmen Quallen über den Wassern zu singen.
Aber sie sahen und hörten nicht, klagte die Rättin den betenden Ratten; ihr seht und hört, wollt aber dennoch nicht zur Vernunft kommen, rief anklagend Oskar.
Hätten die Hühner warnend eckige Eier gelegt, hätte der Mensch das Würfelei Fortschritt genannt, höhnte sie; und er donnerte, als wäre ihm die Ewigkeit mit Worten zu Hilfe gekommen: Müssen Flüsse bergauf fließen und Berge kopfstehen, damit ihr begreift?
Immerfort rief die Rättin von Sankt Mariens Kanzel den Menschen Wahnwitz nach. Meschuggelesch Balesseks! rief sie. Und unermüdlich drohte unser Herr Matzerath, seinen aufklärenden Videofilm lang, dem Menschengeschlecht Vernichtung an, weshalb er diese Kassette, nach seiner Rückkehr aus Polen in Produktion geben wollte. Die Rättin jedoch setzte ihre Predigt mit der Ermahnung aller versammelten Rattenvölker fort, nicht wie der gewesene Mensch in Glaubensstreit zu zerfallen, sondern wieder einig im Glauben zu sein, auf daß man gemeinsam der letzten Humanen betend gedenken könne. Sie meinte Anna Koljaiczek in ihrem Lehnstuhl und mich in der Raumkapsel, auf meiner Umlaufbahn; denn immer noch von der Kanzel herab, doch nicht mehr im Predigerton, eher gutgelaunt, erzählte sie mir ohne daß es Oskar gelang, wieder zu Wort zu kommen Neuigkeiten aus posthumaner Geschichte. Sie sagte: Oft wirken Donnerworte noch Wunder. Freue dich, Freundchen, wir streiten nicht mehr! Der religiöse Hader läßt nach. Man lenkt ein, beteuert, daß Spaltungen gar nicht beabsichtigt seien. Man will mit sich reden lassen. Angebote werden gemacht, bedenkenswerte darunter. Das heißt: wir Katholischen haben uns wieder mal durchgesetzt. Behilflich wurde jene Minderheit, die du erinnerst dich? von den Orthodoxen abfiel und sich als urchristlich-kommunistisch verstand, worauf andere Gruppen das abgefallene Grüppchen verfolgten. Wahrscheinlich sind es protestantische Eiferer, wenn nicht die Orthodoxen selbst gewesen, die bis zum Äußersten gingen. Von Folterungen wurde gesprochen. Man hätte die Abtrünnigen nahezu menschenerdenklicher Pein unterworfen. Danach erst kam es zum öffentlich abschreckenden Vollzug. Daß wir Katholischen es mit aller Strenge gewesen sein sollen, ist ein hartnäckiges Gerücht fern jeder höheren Wahrheit; wenngleich uns der Vorgang in seiner Bildhaftigkeit wie gerufen kam.
So hörte ich von den Kreuzigungen auf dem Bischofsberg. Sie sagte: Du weißt ja, von dieser Anhöhe herab kann man die Stadt gut überblicken.
Ich erinnerte mich an mittelalterliche Tafelbilder holländischer Schule, auf denen sich die Kreuzigung Christi und der Schächer dergestalt auf dem Bischofsberg abspielte, daß man die Türme der Stadt Danzig im Hintergrund sah. Und dahinter, von Schiffen belebt, die Baltische See.
Sie haben, sagte die Rättin, hundertunddreißig urchristliche Ratten auf dem Bischofsberg gekreuzigt.
Das glaub ich nicht, glaub ich nicht! rief ich.
Sie haben die Kreuze in drei Reihen gestaffelt.
Aber wie und womit gekreuzigt?!
Na mit Nägeln, du Dummerchen!
Lüge! Rattenlatein!
Damit ich glaubte, zeigte die Rättin mir, was auf dem Bischofsberg zur Einigung, sie sagte Versöhnung, der zerstrittenen Rattenvölker geführt hatte. Mit Hilfe einer jener Rückblenden, die ihr jederzeit abrufbar sind, sah ich sauber genagt hundert und mehr Kreuze, an denen die Urchristlichen hingen: Und wie überm Hauptaltar der Marienkirche links rechts zu Füßen des Gekreuzigten Maria und Johannes standen, waren

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