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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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abgemagert, struppig, ein Bild des Jammers. Ich sah sie Blech, Schrott, Steine beißen. Nur noch das, sagte sie, biete sich an. Es müsse ja, der immerfort nachwachsenden Zähne wegen, unablässig etwas, und sei es ein stählerner Schraubenschlüssel oder verbliebener Stacheldraht, gebissen, wie man sehe, zerbissen werden. Immerhin fänden sich hier und da restliche Schrumpfkörper; doch Wunschkost seien die nicht.
Dann träumte sie mir wieder fett und mit glattem Fell. Satt erzählte sie von Hungerzeiten, ohne die Ursache neuerlichen Wohllebens zu nennen. Damals, sagte die Rättin, als uns Hunger beten lehrte, doch Frömmigkeit nur verbissenen Streit brachte, war eines unserer Reviere zwar ländlich wüst aber dennoch besonders, denn inmitten einer in ihrem Mauerwerk halbwegs stabil gebliebenen Kate atmete schwach und brabbelte unentwegt jene nach menschlicher Zählung uralte Frau, die dir, Freund, aus nachhallenden Geschichten nicht fremd sein mag.
Jedenfalls haben auch wir sie verehrt. Wie geduldig sie uns und unsere Neugierde ertrug. Was sie auch brabbelte, und so nah wir ihr kamen, nie ein böses Wort über uns. Einmal hörten wir: Mariaondjosef! Mechten miä doch de Ratten abhelfen... Aber das durften wir nicht, denn abgesehen von deiner entrückten, in einer Raumkapsel aufgehobenen Existenz war die Uralte uns der einzige, zuletzt verbliebene Mensch. Hegen und pflegen wollten wir sie, uns bewahren. Als sie nach der Zeit kalter Finsternis kaum mehr atmete und nicht mehr brabbelte, haben wir ihren Sitz in Gruppen fürsorglich besucht. Nicht nur die ländlichen, auch die städtischen Völker schickten Delegationen. Da uns die Uralte immer weniger wurde und, obgleich atmend, auszutrocknen schien, haben wir sie getränkt und gefüttert mit Vorgekautem, was uns trotz Mangel entbehrlich war. Immer waren ihr Jungratten zu Diensten. Wir beteten sie nicht nur an, wir päppelten sie.
Und ich sah, was die Rättin aus posthumanen Hungerzeiten erzählte. Zur Zwergin geschrumpft und in ihrem nun zu weiträumigen Sonntagskleid versunken, sah ich Anna Koljaiczek von anbetenden Altratten umgehen, von mageren Jungratten belaufen. Ich sah, wie sie versorgt wurde, sah, wie ihr eingesunkener Mund sich öffnete, auf daß ihr die diensttuenden Jungratten Feuchtes einspritzten und vorgekauten Brei in die zahnlose Mundhöhle schieben konnten.
Widerlich! rief ich.
Den Ton kennen wir, antwortete die Rättin.
Aber sie will, daß es ein Ende nimmt.
Noch schmeckt es ihr. Hör nur, sie schmatzt.
Und was schmeckt ihr, was?!
Wir haben einige Jungtiere opfern müssen, aus gesunden Würfen natürlich...
Warum, verdammt, laßt ihr sie nicht sterben! rief ich und hörte meinen Ruf verhallen.
Die Antwort der Rättin kam verzögert, als wollte sie mir verstreichende Zeit andeuten: Sie war uns noch lebend schon heilig. Alles, was sich bei ihr befand, wurde mit ihr Gegenstand unserer Anbetung, soviel Zeug zu ihren Füßen lag. Mehr noch als jene goldenen Münzen, die, um ihren Lehnstuhl wie achtlos verworfen, hier die Zahl, dort den Adler zeigten oder auch Bildnisse einst gekrönter Häupter, wurden uns jene Figürchen verehrungswürdig, die überall auf und unterm Schutt verstreut lagen. Dem Humanen und dessen vielseitigen Tätigkeiten nachgebildet, erinnerten sie uns an das Menschengeschlecht. Sobald wir sie putzten, waren sie von blauweißer Farbe. Ihre Werkzeuge und sonstigen Gerätschaften waren, vom Ruß befreit, wieder rot, grün, braun, silbern und gelb. Wie niedlich sie dreinschauten. Wie drollig sie ihren Fleiß hervorkehrten. Wir hätten mit ihnen spielen mögen, wäre uns nicht jede Figur, wie die Uralte, heilig gewesen.
Auch das wurde bildlich: Ratten zwischen Golddukaten und Schlümpfen. Es lag noch mehr rum: ein zerscherbtes Porzellanpferd, ein schmiedeeiserner Schriftzug, der Brieföffner mit Bernsteingriff, die Kuckucksuhr, deren Zifferblatt die Endzeit fünf nach zwölf anzeigte, dieses und jenes, der zerknautschte Elektrogrill und Anna Koljaiczeks Gebiß, das ihr nach dem Großen Knall entfallen sein mußte; den Rosenkranz hielt sie immer noch.
Ja, sagte die Rättin, sie gab uns Halt. Sie hieß uns wieder einig werden, denn mit der Zeit des Mangels ging der Streit um den rechten Glauben einher. Du wirst dich erinnern: Wir äfften das Menschengeschlecht nach, verfolgten, folterten, kreuzigten unsereins, so daß man uns Ratten für eifernde Ketzer und die Ketzerei verfolgende Eiferer hätte halten können. Schließlich hing eine nicht

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