Die Rättin
zweiten Blick erst, dort überdeutlich von den bekannten, landauf landab geleugneten bewiesenen Schäden befallen sind. Nadelbräune, Paniktriebe, lichte Baumkronen, Naßkerne werden gemeldet, dürre Äste fallen, von kahlen, abgestorbenen Stämmen löst sich die Rinde. Deshalb steht anfangs die Frage: Wie lange noch kann jene Straße, die von Lauterbach kommt, so anheimelnd »Die deutsche Märchenstraße« heißen?
Und deshalb lasse ich die Wagenkolonne des Kanzlers, der mit seinen Ministern und Experten unterwegs ist, nicht im Schwarzwald oder Fichtelgebirge, sondern beispielhaft hier ihren Weg nehmen: hinter Blaulicht, von Polizeischutz flankiert. Mit verhängten Fenstern fahren schwarze Limousinen durch sterbenden Wald. Wir erkennen am Stander das Kanzlerauto. Wir nehmen an, daß der Kanzler im Wageninneren, während er durch sterbenden Wald fährt, Expertengutachten, Gegengutachten, Schadstoffstatistiken und Mortalitätsmuster der Weißtanne liest, weil er als Kanzler fleißig und allseits gut informiert sein muß. Oder aber: er sucht vor großem Auftritt Entspannung, löst Kreuzworträtsel, weiß richtig den Namen Hölderlin einzurücken und erfreut sich seiner waageund senkrechten Allgemeinbildung.
Weder noch. Das Wageninnere der Kanzlerlimousine ist von gedämpfter Familienstimmung gesättigt. Des öffentlichen Bildes und der von mir erdachten Handlung wegen begleiten die Gattin, der Sohn, die Tochter den Kanzler.
Wie soll er beschaffen sein? Leicht austauschbar, ist er dennoch von uns vertrauter Machart: bieder und von trauriger Gestalt. Augenblicklich ißt er, nein, schiebt er einen Keil Buttercremetorte in sich hinein, was seiner Gattin, die sich adrett hält, mißfällt.
Weil die Tochter des Kanzlers den Fenstervorhang zur Seite gerafft hat, sehen wir im Vorbeifahren einen holzgeschnitzten Wegweiser, auf dem zwischen geschnitzten Zwergen in erhabener Fraktur »Die deutsche Märchenstraße« zu lesen steht. (Hier sollte zu Filmbeginn, falls der sterbende Wald mit unseres Herrn Matzerath Produktionshilfe zum Film wird, die Autokolonne langsam, im Schrittempo fahren.)
Auf einem Waldparkplatz, den tote Bäume einfassen, werden der Kanzler und seine Begleitung erwartet. In Eile trifft man letzte Vorbereitungen, denn das Polizeivorauskommando kündigt bereits über Sprechfunk die Wagenkolonne an. An einem Stahlrohrgerüst ziehen Waldarbeiter, die nach Vorschrift Schutzhelme tragen, unter Anleitung eines Försters baumhohe Kulissen hoch, die mit gesundem Wald bemalt sind, etwa im Stil des Malers Moritz von Schwind: knorrige Eichen, dunkle Tannen, lichter Buchenbestand, der in unwegsamen Urwald übergeht. Es fehlen nicht Farn und Niederholz. Auf hoher Leiter, die ein Spezialfahrzeug auszufahren verstand, malt ein Maler zusätzlich Singvögel Buchfinken, das Rotkehlchen, etliche Singdrosseln, die Nachtigall rasch und wie gegen Stücklohn in die gemalten Baumkronen. Der Förster ruft: »Macht fertig, Leute! Gleich kommt der Kanzler!« Dann sagt er mehr für sich: »Es ist zum Heulen.«
Ruckzuck räumen die Waldarbeiter die Szene. Das Polizeivorauskommando verteilt sich und sichert das Gelände. Hinter den Kulissen schaltet ein Tonmeister ein Tonbandgerät ein. Wir hören reichgemischt Vogelstimmen, unter ihnen die frischgemalten Buchfinken, Rotkehlchen, Singdrosseln, aber auch einen Pirol und mehrere Waldtauben. Während das Spezialfahrzeug abfährt, wird mit der Leiter der Maler eingezogen, so daß der letzte Vogel im gemalten Wald, der unermüdlich rufend ein Kuckuck hätte werden sollen, fragmentarisch bleibt. Nun macht der Förster ein Begrüßgesicht. Denn hinter Blaulicht fährt die Wagenkolonne des Kanzlers vor. An den Fenstern der Limousinen werden Vorhänge zur Seite geschoben. Staunen über so viel Natur. Der Kanzler nebst Gattin, die Tochter, der Sohn steigen aus, desgleichen Minister und Experten. Sogleich sind Presse und Fernsehen zur Stelle. Als gelte es, eine Botschaft aufzuzeichnen, nehmen die Medien wahr, daß der Kanzler mehrmals tief einund ausatmet. Gleiches tut sein Gefolge.
Kaum in der Öffentlichkeit, stöpseln sich der Sohn des Kanzlers, dreizehn Jahre alt, die Tochter des Kanzlers, zwölf Jahre alt, je einen Walkman in die Ohren. Den Blick nach innen gestülpt, wirken die Kinder abwesend, was die Kanzlergattin stört. Doch ihre Ermahnung »So hört ihr ja nicht die Vögel im Walde!« wird, wie das hinter Kulissen laufende Tonband, mißachtet. (Die Kanzlerkinder sind nach meiner Vorstellung
Weitere Kostenlose Bücher