Die Rättin
aufgenommen in Noahs Arche. Zugegeben: ein wenig geschmeichelt fühlten wir uns. Hoffnung kam auf: es könnte der Mensch ihn rettender Einsichten fähig werden.
Anfangs wollten sie witzig sein und nannten uns öffentliche Ratten. Als jedoch die Punkmode um sich griff, als Angestellte, Beamte sogar ihre Ratte ins Büro, ins Finanzamt mitnahmen, als wir mit jungen Christen am Gottesdienst der einen, der anderen Konfession teilnehmen durften und in Rathäuser und Hörsäle, in Konferenzräume und Chefetagen, schließlich von Rekruten aller Waffengattungen in militärische Sperrbezirke getragen wurden, hörten wir erste Proteste; es kam zu parlamentarischen Anfragen. Nach kontroverser Debatte sollte das öffentliche Zurschautragen von Ratten durch Gesetz verboten werden. Begründend hieß es: Die Veröffentlichung von Ratten, insbesondere von Wanderratten, gefährdet die Sicherheit, widerspricht dem hygienischen Vorsorgebedürfnis und verletzt das gesunde Volksempfinden.
Einfach lachhaft und abgeschmackt! Es fand sich auch keine Mehrheit, die bereit gewesen wäre, dieses Gesetz zu verabschieden. Frech trugen einige Parlamentarier unsereins ins Hohe Haus sogar. Sogenannte Rattenanhörungen wurden veranstaltet. Man stellte Fragen, die zu Noahs Zeiten hätten gestellt werden sollen, als uns, Ratz und Rättlin, der Einlaß in die rettende Arche verweigert wurde.
Was hat uns die Ratte gegenwärtig zu sagen? lautete eine verspätete Frage. Will uns die Ratte helfen in unserer Not? Ist uns die Ratte näher, als wir seit Menschengedenken wahrhaben wollen?
So sehr die neue Aufmerksamkeit schmeichelte und uns versuchte, des Menschen eingefleischten Haß gering zu achten, waren wir dennoch erstaunt der plötzlichen Zuneigung wegen. Es verwunderte uns, wie scheu und heftig zugleich die jungen Leute mit uns intim waren, besonders die dem Müll zugeordneten Punks. Ob sie uns am Hals, nahe der pulsenden Ader trugen oder uns ihren mageren Leib boten: Erschreckend, wieviel Sanftmut erst jetzt, im Umgang mit uns, ins Spiel kam, wieviel gestaute, nun überflüssige Zärtlichkeit. Diese Hingabe! Wir durften ihre Wirbelsäulen rauf runter, in ihre Achselhöhlen uns betten. Wie unser Fell sie kicherig machte. Wie sie die kühle Glätte unserer Schwänze als zartes Fingern empfanden. Und was sie mit zitternden, schwarzgeschminkten Lippen flüsterten, kaum hörbar hauchten, als wären unsere Ohren ihnen gut gewesen zur Beichte: So viel stammelnde Wut und Bitternis, so viel Angst vor Gewinn und Verlust, vor dem Tod, den sie suchten, vor dem Leben, nach dem sie gierten. Ihr Barmen nach Liebe. Ihr: Sag doch was, Ratte! Was sollen wir, Ratte! Hilf uns doch, Ratte! Ach, wie sie uns in den Ohren lagen.
In alles mischten sich Ängste: nicht nur in ihre Schattenquartiere, auch in ihr buntgepinseltes Glück. Deshalb schlugen ihre Farben so grell ins Auge. Immerverschreckte Kinder, die einander die Blässe des Todes anschminkten, sich mit Leichengrün ahnungsvoll zeichneten. Selbst ihr Gelb, ihr Orange waren auf Schimmel und Verwesung gestimmt. Ihr Blau hoffte das Ende herbei. Kalkigem Grund trugen sie rote Schreie auf. Ins Violett malten sie fahles Gewürm. Den Rücken lang, die Brust, den Hals hoch, bis übers Gesicht waren die einen schwarzweiß vergittert, die anderen wie von Geißelhieben verletzt. Sie wollten sich blutig sehen. Und jede Farbe nahm ihr sorgsam frisiertes Haar an. Ach, ihre feierlich inszenierten Totentänze auf bankrottem Fabrikgelände: vom Mittelalter zurückgeholt, als wären die Flagellanten in sie gefahren. Und wieviel Haß sie gegen alles, was Mensch war, kehrten. Immer angriffig auf dem Sprung und gehetzt zugleich. Mit Ketten rasselten sie, wie mit der Galeere vertraut. Sie wollten vertiert sein. Ohne von uns genug zu wissen, wollten sie sein wie wir. Wo sie als Paar gingen, waren sie Ratte und Rättin. Nannten einander auch so, zärtlich und fordernd. Schnitten sich Kappen zurecht, die unsere Kopfform zum Muster hatten und hielten sich Masken vor, die unseren Ausdruck ins Dämonische steigerten. Sie hingen sich ärschlings nackte Langschwänze an und zogen von überall her, zu Fuß und motorisiert, in eine bestimmte Richtung, als hätten alle Wege dorthin geführt, als wäre ihr Heil nur dort zu finden gewesen.
Jadoch! In Scharen. War nicht zu verfehlen der verrufene Ort. Es lag ein Magnet dort, der ihnen Sammlung befahl. Kurzum: sie wollten einander treffen und jene Stadt überfüllen, die zu unserer Legende gehört. Dort
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