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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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über Wasser und Land lag. Die Erde war ohne Licht. Nicht du, nicht wir können die Zeit der Finsternis messen. Wie wird es in jenen Tagen der Kälte oder waren es Monate, Jahre
dem treibenden Wrack ergangen sein? Trieb es in Schwärze eingesargt? Oder saß es unter Dauerfrost fest, vom Eis überzogen? Wenn Leben, irgendeine Art Leben im Schiffsrumpf gewesen wäre, wie hätte es, fragen wir Ratten uns oft, überdauern können?
Genau! rief ich. Niemand, keine Wanze hält sowas aus. Wir sollten das Wrack abschreiben. Es bringt nichts mehr. Unseren Herrn Matzerath auch. Weg mit ihm! Das ist doch alles von vorvorgestern. Erzähl lieber, Rättin, was bei euch in der Landwirtschaft läuft. War das Frühjahr zu naß? Was brachten die letzten Ernten? Achtet ihr auf den Fruchtwechsel? Aber jewiß doch, Herrchen! rief ländlich breit die Rättin. Und ich sah Felder, bis zu den Horizonten: Rüben, Mais, Gerste und Sonnenblumen. Wie schwer sich die Fruchtkörbe neigten. Sah Kerne in ihrer Ordnung gereiht. Und farbige Vögel sah ich über den Feldern. Ein schöner Traum...
    Kaum sind die Grimmbrüder gegangen, ruft Rumpelstilzchen als Kellner: »Abwarten und Teetrinken!« Er serviert Getränke vorm Haus. Gutgelaunt und zu kleinen Scherzen aufgelegt, steht man in Gruppen und plaudert, als habe die Hexe das Personal weithin bekannter Märchen zu einer Stehparty geladen. Man sagt einander altmodische Artigkeiten, doch nebenbei werden aus Vorzeiten verschleppte Spannungen deutlich: Die Bösen Feen können schnippische Bemerkungen, die den Guten Feen gelten, nicht unterdrücken. Das Tapfere Schneiderlein sucht Streit mit den Wilden Männern. Überall wuseln zänkisch Zwerge und Schrate. Die Hexe und die Böse Stiefmutter stechen einander mit Blicken ab. Rübezahl hat Frau Holle beleidigt. Rotkäppchen versucht, Hänsel anzumachen. Jetzt will Gretel, weil der Froschkönig nicht in den Brunnen will, in den Wolf flüchten, aber der Reißverschluß sperrt. Niemand hört der Großmutter zu, die aus dem Wörterbuch alte Wörter hersagt. Anderes ist anziehender: der Zauberer Merlin und König Drosselbart halten Hof. Zwerge und Schrate drängeln. Die minderen Hexen wollen nahbei sein. »Einen Jacob Grimm als Kanzler ließe selbst ich mir gefallen!« ruft Drosselbart. Merlin, der soeben noch von Intrigen um König Artus' Tafelrunde Bericht gab, räumt ein: »Unsereins würde die Grimmbrüder immerhin tolerieren.« Man lacht und trinkt auf das Wohl der neuen Regierung.
Nur das Mädchen mit den abgehauenen Händen ist traurig. Lustlos hängen die Hände an der Schnur um den Hals. Es streunt zwischen den plaudernden Gruppen, will keinen Drink, den Rumpelstilzchen ihm anbietet, mag nicht Rübezahls Angebereien aus Zeiten hören, in denen er arme Köhler und Glasbläser erschreckt hat, sieht bekümmert, wie ein Zwerg nach dem anderen Schneewittchen in die Büsche zerrt, ist, sobald ihm Jorinde und Joringel begegnen, trauriger als zuvor und verdrückt sich schließlich ins Knusperhäuschen, wo Rapunzel, mit deren Haar der Prinz gebunden ist, neben der Bösen Stiefmutter auf einer Fensterbank und vor wehenden Gardinen sitzt.
Immer noch küßt der Prinz die seinem Dornröschen nachgebildete Puppe. Rapunzel und die Böse Stiefmutter nehmen sich Bindfäden ab, ein verzwacktes Fingerspiel, dem das Mädchen ohne Hände lange zusieht.
Endlich faßt es Mut und sagt: »Darf ich sehen, wie mein Herr Vater zweimal mit dem Beil zuschlägt?« Die Böse Stiefmutter zeigt sich freundlich, worauf ihr die Hände des Mädchens, um behilflich zu sein, das kunstvolle Bindfadengespinst abnehmen, so daß sie zum Kästchen greifen, ein Knöpfchen drücken und, während der Bildschirm zu flimmern beginnt, wieder ihr Fadengespinst von des Mädchens Fingern abnehmen kann, um es Rapunzel anzubieten, die das Gespinst im Aufnehmen verändert.
Jetzt belebt sich der Spiegel mit einander löschenden Märchenszenen: Wir sehen die Sieben Zwerge um den gläsernen Schneewittchensarg gestellt; wütig reißt sich Rumpelstilzchen sein Bein aus; die Geißlein flüchten, eins in den Uhrkasten; der Dame mit ewigem Kopfschmerz fällt, als sie noch Kind war, die güldene Kugel ins Brunnenloch; endlich zeigt der Zauberspiegel das Märchen von den abgehauenen Händen. Auf einem Hocker gekauert, dicht vor den Spiegel gerückt, die Hände an der Schnur auf den Knien, so sieht das Mädchen, wie der Vater auf Geheiß des Teufels, dem er in seiner Not sich verschrieben hatte, mit dem Beil zweimal

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