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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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zuschlägt, wie es darauf mit Händen, die abgehackt an der Schnur hängen, traurig und ziellos durch die Welt läuft, wie ihm endlich ein Prinz hilft, in Liebe den besonderen Baum zu umfassen, auf daß dem Mädchen die Hände wieder anwachsen und es glücklich wird mit dem Prinzen.
Weil aber die Böse Stiefmutter den Märchenfilm trotz des verzwackten Bindfadenspiels im Auge hat, manipuliert sie böse, wie sie sein muß, mit kleinem Finger den Filmverlauf, so daß dessen Szenen in rascher Folge wechseln: Hier hackt der Vater zweimal mit dem Beil, dort hilft der Prinz, den Baum zu umfassen, dann wieder schrecklich der Vater, darauf hilfreich der Prinz, nochmal das Beil; kurzes Glück und Schrecken ohne Ende.
Und wie im Film wachsen dem Mädchen auf dem Hocker vorm Spiegel die Hände beide an, um abermals abgehackt auf den Knien zu liegen, trostlos immer wieder.
Indessen will die Stehparty nicht enden. Einige Märchengestalten spielen ihre Rollen. Unterm Betthäubchen zeigt Rotkäppchens Großmutter plötzlich ein Wolfsgesicht. Die Hexe läßt Besen tanzen. Rübezahl biegt Eisenstäbe krumm. Als wandle sie im Traum, trägt des Froschkönigs Dame auf einem Tablett ihren Frosch von Gruppe zu Gruppe. Hänsel und Gretel holen letzte Bucheckern und Haselnüsse aus dem Knusperhäuschen-Automaten. Die Guten und Bösen Feen verwandeln sich wechselseitig in Vogelscheuchen. Auch Aschenbrödel und König Drosselbart, der Standhafte Zinnsoldat und Frau Holle sind ganz und gar in ihre Märchen vernarrt. Selbstvergessen spielen sie sich. Sogar Schneewittchen will nicht mehr mit wechselnden Zwergen ins Gebüsch, sondern tausendmal schöner für wen auch immer sein. So geht Märchen in Märchen über. Jorinde liegt beim Zinnsoldaten, Joringel hat sich zu Aschenbrödel gelegt. Einzig die Hexe bleibt sich und Hänsel treu: zwischen ihre enormen Titten gebettet, träumt ihm nicht nur, was hinterm Hagebuttengebüsch geschieht.
Und ähnlich vertieft in ihr Spiel sind indessen die Böse Stiefmutter und Rapunzel. Während sie einander die Bindfadenkunst Mal um Mal abnehmen, merken sie nicht, wie sich der wachküssende Prinz von Rapunzels Haarfesseln befreit, zwischen wehenden Gardinen aus dem Fenster springt und, weil der Wald hinterm Haus so dicht steht, mit wenigen Sprüngen entkommt.
Auch das Mädchen ohne Hände merkt nicht auf, denn immer noch sieht es seinen Film, in dessen Verlauf soeben ein anderer Prinz Glück bringt, das allerdings nicht von Dauer ist; immer noch manipuliert die Böse Stiefmutter mit kleinem Finger. Draußen löst sich die Stehparty auf. Heftige Windstöße. Wer sich gepaart gelagert hatte, findet es plötzlich kühl. Verstört drängen alle ins Haus. Während er weiterhin Tee und Säfte serviert, sagt der Kellner Rumpelstilzchen: »Ob wohl die Grimmbrüder inzwischen eine neue und gute Regierung gebildet haben?«
Erschrocken erinnern sich die Märchengestalten der Wirklichkeit. Grob wird das Mädchen, dessen Hände im Film abermals abgehackt werden und also gesondert auf ihren Knien liegen, von den Sieben Zwergen verdrängt. Die Böse Stiefmutter gibt das Bindfadenspiel auf und schaltet den Zauberspiegel nach Bonn um. Alle, auch Rapunzel mit langem Haar, stehen dichtgedrängt und wollen sehen, was fernab läuft.
In Bonn wuchert noch immer Grünzeug. Bis in die Fenster des Bundeskanzleramtes, in den Kabinettsaal hinein kriechen Schlingund Kletterpflanzen. Dort halten die Grimmbrüder mit ihrer Notstandsregierung, die aus Industriebossen, Bischöfen, Generälen und Professoren besteht, ihre erste Kabinettssitzung ab. Reihum zeigen sie die Wasserrosenblätter mit den drei Forderungen der Märchengestalten nach reiner Luft, sauberem Wasser und gesunden Früchten. Die Bischöfe und Professoren nicken vorsichtig bedenklich. Die Generäle sitzen unbewegt am Kabinettstisch und fühlen sich vom überall rankenden Grünzeug belästigt. Die Industriebosse sind empört. Sie gestikulieren und schlagen auf den Kabinettstisch, der, mit Filz bezogen, sprichwörtlich grün ist. Lauter Streit und heimliches Tuscheln. Unterm Tisch, wo Dickicht wuchert, werden den Professoren und Bischöfen Geldscheine zugesteckt.
Bis auf die Grimmbrüder sprechen jetzt alle, die Bischöfe unter Bedauern, gegen die drei Forderungen, so einfach sie sich lesen, so bescheiden sie sind. Zum erstenmal zornig schlägt Jacob Grimm auf den grünen Tisch. Einzig sein Bruder erschrickt. Erstaunt und herablassend geben sich Bosse und Generäle, die Professoren

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