Die Rättin
Sie endlich auf zu leugnen, daß Sie meinen bevorstehenden Geburtstag mit Ihrem vorsorglich ertüftelten Nachruf abfeiern wollten. Eine Harnvergiftung mit letalem Ausgang wäre Ihnen zupaß gekommen: ein mir maßgeschneiderter Tod! Wie gut, daß mein Chauffeur Ihren Absichten zuvorkam, bereits bei Helmstedt die Autobahn verließ und gerade noch rechtzeitig den tüchtigsten Urologen am Platze ansteuerte. Stellen Sie sich vor: tausendvierhundertundsiebzig Milliliter Harn faßte die Blase...«
Womit unser Herr Matzerath wieder bei den bekannten Einzelheiten und quicklebendig ist. Seitdem ihm ein Katheter gelegt werden mußte, hat sein Ich neuen Stoff gefunden. Nichts kann von dem hilfreichen Röhrchen und dessen Stöpsel ablenken. »Wie einfach, wie genial ist diese Erfindung!« ruft er und wird nicht müde zu erklären, wie durch den Abzweig des Schlauches, den man in seine Harnröhre gefädelt hat, jenes kirschgroße Bällchen aufgeblasen wird, das dem Katheter rückwärtigen Halt gibt und dem Träger Sicherheit verbürgt. »Sehen Sie«, sagt er, »das zeichnet den Menschen aus: in noch so verzweifelter Lage weiß er sich letztlich zu helfen.« Meinen Einwand, es könne aber doch sein, daß sich der gegenwärtigen Lage, deren abschüssige Neigung niemand, selbst er nicht leugnen werde, kein hilfreicher Katheter anbiete, ließ er nicht gelten: »Unkenrufe! Überall höre ich Unkenrufe nur noch. Schauen Sie andererseits mich an: Obgleich mir mein Ende gründlich vorbedacht worden war, kehrte ich, wenn auch leidend, von den kaschubischen Äckern zurück. Zwar wird, sobald ich sechzig zähle, ein Eingriff nicht zu vermeiden sein, doch dürfen Sie sicher bleiben, daß nicht ich Gefahr laufe, dieser Welt enthoben zu werden; vielmehr sind Sie es, der sich verflüchtigt hat und nun schwebt, als habe man ihn und sei es aus Spaß nur in eine Raumkapsel verwünscht ...«
Mußte das sein, Rättin? Mußte ein großer Knall allem, was lief, den Punkt setzen? Und muß nun ich mit dem Winzling Oskar, der zum Altarschmuck verkam, kümmerlich haushalten, um mir, kaum zeitverschoben, das Gerede dieses Herrn Matzerath anzuhören, der fortgesetzt Pläne heckt und aller Welt Lebenszeichen signalisiert? Will denn nichts, auch das Dritte Programm nicht aufhören? Und bleibt mir, Rättin, während ihr Rattenvölker Ernte nach Ernte einbringt und Sonnenblumenkerne häufelt, nur noch vom treibenden Wrack zu berichten, weil die Frauen, kaum sahen sie unter sich ihr Vineta liegen, ausgelöscht wurden? Dürfen mir nur noch Nachrufe einfallen? Rasch abgelenkt, ihnen nah; denn zeitweilig haben mich Frauen mit ihren Gefühlen versorgt: Die eine zärtlich, als meinte sie sich, die andere heftig und ohne Geduld, die dritte bei Gelegenheit, die vierte blieb unverzagt, die fünfte ergriff mich umfassend bis heute: Damroka...
Du wirst zugeben, Rättin: immer fehlte was oder jammerten Reste. Nie war ich zuhaus wie gewünscht. Immer hatte der Ball eine Delle. Deshalb dachte ich mir ein Schiff aus, mit Frauen bemannt. Nur versuchsweise mal sehen, was dabei rauskommt gefiel es mir, alle einträchtig auf Reise zu schicken, obgleich sie einander spinnefeind waren und in Wirklichkeit umständlich mieden. So sind die Frauen, sagte man damals. Doch du, Rättin, hast meinen Versuch, sie allesamt Schwesterlich zu begreifen, aufgehoben, und zwar Knall auf Fall. Ach, könnte ich doch, ohne Spuren zu lassen, mit ihnen ausgelöscht sein.
Aber du willst, daß ich schreibe. Also schreibe ich: Das Wrack treibt in östliche Richtung.
Du verlangst, daß ich, sobald sich die Ostsee unter meiner Raumkapsel breitet, das treibende Wrack nicht aus dem Blick verliere.
Doch nur dir ist das Wrack wichtig, ich habe es abgeschrieben schon längst, wie ich unseren Herrn Matzerath habe abschreiben wollen. Was will er noch! Was redet er mir dazwischen! Was soll ich mit dem verdammten Wrack!
Mit allen Aufbauten, die, schwarz begrenzt, blau gestrichen waren, verglühten die Frauen. Wie sie mir fehlen. Erbärmlich und herrlich war ich bei ihnen. Liebe! Davon verstehst du nichts, Rättin. Dieses Zuvielniegenug. Ihr wollt nur leben und überleben. Behalte das Wrack im Auge! rufst du. Da rührt sich was, Freundchen, da rührt sich doch was!
Ja, Deckplanken klappern. Reste der Reling knicken weg, gehen über Bord. Was noch soll sich rühren? Schattenspiele? Gespiegelte Wünsche? Sollen sich etwa Tonbänder abspielen, selbsttätig auf dem Recorder?
Nichts höre ich. Keinen Medusengesang. Die See
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