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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Ohrenquallen allzu schmerzhaft an das glastötende Geschrei seiner Kindheitsjahre erinnerte. Vermutlich waren ihm, dem zwar kleinwüchsigen, aber überbetont männlichen Herrn, die Herrschaftswünsche der Frauen suspekt. Jedenfalls sparte er aus, ließ weg, unterschlug und verneinte. Er verbat seinem Videofilm überhöhende Effekte und erlaubte dem Großen Knall, sich wie von heiterem Himmel herab zu ereignen.
Als Schicksal, unabwendbar geschieht es. Niemand hat das gewollt, niemand hat das verhindert. Schuldfragen stellen sich nicht. Auch fehlen Hinweise auf tätige Ratten in Großcomputeranlagen. Alles geschieht aus sich heraus. Wir erleben Blitze und heilloses Licht wie letztgültige Inszenierungen. Wir sehen über Peenemünde, Stralsund und weiter weg die aus anderen Filmen vertrauten Pilze wuchern. Wir könnten annehmen, es sei das alles nur ein Naturereignis, läge nicht unseres Herrn Matzeraths Erzengelstimme trompetenhell über dem Endgeschehen.
Rufen hören wir ihn: »So läuft ab, was seit langem anlief. So geht in Erfüllung, was sich die Menschen gegenseitig versprochen haben. Auf dieses Ereignis hin hat sich das Menschengeschlecht erzogen. So endet, was nie hätte beginnen dürfen. Oh, Vernunft! Oh, Unsterblichkeit! Zwar wurde nichts fertig, doch nun ist alles vollbracht.«
Folgerichtig verdampfen die Frauen an Bord des Schiffes, ohne ihr Vineta gefunden zu haben. Hätte der Vorausschau unseres Herrn Matzerath nicht doch eine milde, immerhin denkbare Fügung einfallen können: etwas Tröstliches? Es hätte seine Dramaturgie eher gesteigert, wenn er dem Butt kurz vor Schluß erlaubt hätte, platt über Vineta zu schwimmen, das schiefe Maul zu öffnen und alle fünf Frauen, meine Damroka voran, von Bord des Schiffes in die Tiefe zu rufen. Es hätte, unter Wasser zwar und allem posthumanen Geschehen entrückt, mit der Gründung von Feminal-City eine neue Geschichte beginnen und das Ende der letzten mildern können. Aber nein! Folgerichtig und streng konsequent: zu nichts mußte ihre Schönheit vergehen. Ich nicht, Oskar hat das gewollt. Seitdem fehlen die Frauen mir schmerzlich. Also treibt das Wrack auf östlichem Kurs trostlos. Doch im Vorschiff rührt sich manipuliertes Leben. Nur für Sekunden zeigt der Videofilm Gestalten auf schwarzem Schiffsrumpf. Auch sie haben Verluste erlitten. Sechs, nein sieben Exemplare der neuen Gattung krepierten und werden nun über Bord geworfen. Zwölf sind geblieben. Man ahnt menschliche Gliedmaßen, ihre rattigen Köpfe. Es gehen vier oder fünf, die offensichtlich weiblichen Geschlechts sind, wie gelernt seemännischer Arbeit nach: sie halten das Wrack auf Kurs. Dann plötzlich flüchten alle unter Deck, weil ein Staubsturm aufkommt. Auch die Watsoncricks fürchten den weltweiten Befall. Einblendungen zeigen, wie schlimm es überall aussieht. Nicht nur Moskau und New York sind zu Staub geworden, nicht nur das Donezbecken, die Poebene und das Ruhrgebiet sind verbrannte Erde, auch Zürich und Bombay, Rio und Kapstadt waren einmal. Hongkong! Das soll Hongkong gewesen sein? Man mag nicht aufzählen, was des Herrn Matzerath Videokunst im Vorgriff hinwegrafft, einebnet, zu Kraterlandschaften wandelt oder in Sonderfällen, wo Kulturgut geschont werden durfte, als Kulisse erhält, Florenz etwa, Kyoto und
wie wir wissen GdaDsk. Doch so weltumfassend der Schlußstrich im Film gezogen wird, so ungehemmt, bei anhaltender Finsternis und Kälte, Staubstürme alles Lebendige tilgen, schemenhaft bleibt dennoch das Wrack im Bild, bis endlich die Sonne nicht mehr verdunkelt ist und Staubstürme belebenden Winden weichen. Einige Nippels sieht man sich räkeln auf Deck.
Ich gebe zu, daß dieser Teil der Matzerathschen Videoproduktion Längen aufweist. Schließlich sind uns filmische Katastrophenauswertungen aus vielen, während der Schlußphase gängigen Kinofilmen bekannt. Nochmals einfallsreich nahm der Homo ludens seinen Ausgang vorweg. Dennoch unterscheidet sich die Matzerathsche Schöpfung, trotz der genannten Mängel, von üblichen Endzeitprodukten. Ihr Vorgriff auf fürsorglich geplantes Nachleben beweist Perspektive. Einleuchtend ist das Finale des Films, das die posthumane Geschichte im Übergang zur neohumanen thematisiert: Mehr noch als im Traum, den mir die Rättin aus ängstlicher Rattensicht kommentierte, wird im Videofilm die Schönheit, ja, der Liebreiz insbesondere weiblicher Rattenmenschen offenbar. Immer wieder wühlt die Kamera in rotblonder, in weizenheller Behaarung;

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