Die Rättin
Doch jetzt, gut vorbereitet durch grobund feindatierte Geschichte, gehen endlich die Manipulierten an Land. Oder immer noch nicht? Muß abermals dem Vorspann ein Vorspann folgen? Fehlt eine letzte historische Untermalung?
Unser Herr Matzerath wollte sich nicht jene Zeitspanne wegkürzen, in deren Verlauf sein existentieller Bruch markiert wurde. Also sehen wir die brennende Stadt Danzig, Flüchtlingstrecks und die Flucht übers Wasser. Überladene Schiffe sollen Zivilisten, Parteischranzen, verwundete oder noch heile Soldaten vor der anrückenden Sowjetmacht retten und in westliche Ostseehäfen bringen. Die »Wilhelm Gustloff« sehen wir am 30. Januar 1945 zwölf Seemeilen querab Stolpmünde mit über fünftausend Menschen, die »Steuben« am 10. Februar mit über dreitausendfünfhundert sinken. Drei Fahrten, nach denen sich siebenundzwanzigtausend Flüchtlinge als gerettet sehen, macht die »Cap Arcona« und kentert dann brennend vor Schleswig-Holsteins Küste mit fünfeinhalbtausend Häftlingen aus dem Konzentrationslager Neuengamme an Bord. Falsch orientiert griffen britische Bomber an. Das geschah am dritten Mai, fünf Tage vor Ende des Zwischenkrieges. Doch auch diese Episode wird von den Ratten wahrgenommen. Keine will die »Wilhelm Gustloff« auf letzter Fahrt begleiten. Und kaum ist die »Cap Arcona« mit KZ-Häftlingen belegt, sehen wir, wie tausend Ratten und mehr das vom Unglück bestimmte Schiff, wie es geschrieben steht, eilig verlassen. Er läßt nichts aus. Das alles, auch Menschen und Ratten auf letzten Fährprähmen und Küstenschiffen unter ihnen der Lastewer »Dora« zeigt unser Herr Matzerath. Indem er nun dem Geschehen vorgreift und mit dem Auslaufen des Forschungsschiffes »Die Neue Ilsebill« die knappe Zeit vorm Großen Knall einblendet, folgt er seiner Video-Dramaturgie, die alles gleichzeitig weiß.
Endlich erleben wir die fünf Frauen filmisch vor Visbys Forschungsinstitut für Gentechnologie. Wir hören Rufe, sehen Scheiben splittern. Vor unseren videosüchtigen Augen werden Käfige geöffnet. Wir freuen uns mit den befreiten Tieren. Anfangs sieht es aus, als werden nur Normaltiere freigesetzt, doch wer genau hinsieht, bemerkt, daß außer ihnen ein gutes Dutzend Freiheit gewinnt, dem etliche Testreihen angeschlagen sind: Mensch und Ratte, Ratte und Mensch über Gene miteinander verkettet, perfekte Watsoncricks, die sogleich den Weg zum Hafen finden.
Das zeigt unser Herr Matzerath in seinem Film, der übrigens betont sachlich »Davor und danach« heißt, ausführlich: Wie die Rattenmenschen, ein jeglicher knapp meterhoch, die Kaianlagen erreichen; wie sie ein Zollboot streng bewacht finden, ihnen ein Ausflugsdampfer wenig geeignet erscheint und ihnen endlich die »Ilsebill« gefällt; wie sie Proviant aus Lagerschuppen rauben, bepackt an Bord gehen und ihnen ein Niedergang offensteht; wie achtzehn oder neunzehn durch eine Luke kriechen und zwischen dem Holzund dem Eisenboden des ehemaligen Lastewers Zuflucht finden.
Die Rattenmenschen im Film sehen aus, als hätte ich sie geträumt. Und wie nun die fünf Frauen gleich darauf das Schiff bemannen, sehe ich, daß auch unser Herr Matzerath die Kapitänin schön befunden hat. Sie gleicht meiner Damroka und auch die anderen Frauen sind mir im Film nicht fremd. Wir sehen das Schiff ablegen und auslaufen.
Von nun an verläuft die Videogeschichte schnurstracks. Was Gustav Adolf vormachte, will »Die Neue Ilsebill« wiederholen: sie nimmt Kurs auf Usedom. Was Gustav Adolf versäumte, ist den Frauen Verheißung und Reiseziel: Sie ankern überm Vinetatief und lassen die Küstenkontrolle über sich ergehen, ohne daß die DDR-Polizisten fündig werden. Hübsch die Filmszene, wie sich die Frauen schönmachen, mit Schmuck behängen, auf Deck flanieren und ihre Lieblingsrollen, lauter Königinnen spielen.
Natürlich hätte unser Herr Matzerath hier abermals mit historischen Einblendungen ausufern können, vielleicht sogar müssen. Doch wie er die Episode mit dem sprechenden Butt, der im Gespräch mit Damroka das nahe Ende verkündet, einfach wegläßt, danach den vielchörigen Medusengesang ausspart und nichts, wie er sagt, »Irrationales« zuläßt, so unterschlägt er auch die Geschichte der versunkenen Stadt und das verheißene Frauenreich, um ohne Umweg zum Schlußpunkt der Humangeschichte zu kommen.
Mag sein, daß Oskar den sprechenden Butt und dessen Visionen als Ablenkung von seiner Existenz empfinden mußte. Mag sein, daß ihn der Medusengesang der
Weitere Kostenlose Bücher