Die Rättin
Fernsehleute die Industriebosse mit vorgehaltenem Mikrophon fragen: »Und was soll mit dem Wald geschehen?«, sagt einer der Bosse: »Abschreiben! Wir werden den Wald einfach abschreiben! Wie die Märchen, so werden wir auch den Wald.«
Das bleibt als Untertitel stehen, während Hänsel und Gretel Hand in Hand laufen.
Auf Fragen geben die Bischöfe alles Geschehen, ob bös oder gut, als Gottes Willen aus: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen«, sagt der eine, und der andere sagt: »Es hat wohl so sollen sein.«
Wie auf der Klappe zu lesen steht, die ein Assistent vor jedem Interview schlägt, wird die Fernsehreportage »Hexe tot Märchen aus« heißen.
Nach ihrer Meinung befragt, reden zum Schluß Minister und Experten durcheinander: »Neue Gutachten müssen her!« »Unabhängige selbstverständlich!« »Jetzt müssen Prioritäten gesetzt werden!« »Andere reden vom Wald, wir klammern ihn aus!« »Nicht der Wald stirbt, sondern der Leistungswille!« »Das sind doch Kindereien, Kindereien sind das!« Lachend laufen Hänsel und Gretel davon. Und wie sie Hand in Hand durch den toten Wald laufen, beginnt er mit treibendem Jungholz zu grünen. Sprung nach Sprung verändert sich das abgestorbene Geäst und mit ihm die lachenden Kinder, wie sie hüpfen und springen. Als kämen sie rückläufig voran, sind Hänsel und Gretel nun nach alter Mode gekleidet. In Bundhosen, Schnürschuhen, Strickstrümpfen und langem Rock laufen sie und zeigen unter der Mütze, dem Häubchen wippende Zöpfe, fliegende Locken. Von des Zeichners Ludwig Richter Hand sind sie entworfen; und der Wald grünt, wie ihn der Maler Moritz von Schwind, ein frommer Schöpfer, gemalt hat: Tannendunkel, hochragende Buchen, Eichen, Ulmen, uralter Mischwald, in dessen Tiefe kein Köhler dringt.
So laufen sie, als gäbe es Märchen noch, als werde das Einhorn sogleich, als sei, wo Häher auffliegen, der Specht pocht und Pilze im Kreis stehen, die Hexe nicht fern. Im Unterholz regt sich was. Wieder der Ameisenberg. Wie anfangs, als noch Hoffnung war, ist es ein gülden Haar, das die Waldtaube im Schnabel hält, um ihnen, bei wechselnd gefiltertem Licht, durch Farn, über Moos und Nadelgründe den Weg zu weisen, denn irgendwo geht es hin.
Und wo sich mitten im Wald zwei Wege kreuzen, sehen Hänsel und Gretel, die gar nicht erstaunt sind, eine mit Schimmeln bespannte Kutsche auf der Wegkreuzung stehn. Ohne Kutscher auf dem Bock, vierspännig und mit Silbernägeln beschlagen, als habe sie gütigst der Schloßherr geschickt, wartet die Kutsche.
Die Schimmel schnauben. Ihr Zaumzeug blinkt. Da öffnet sich der Kutschenschlag zum Wiedersehn. Freundlich grüßen Jacob und Wilhelm Grimm, die wie Hänsel und Gretel biedermeierlich gekleidet sind: mit hohen Hüten, gerüschten Kragen, in Jacken aus Sammet, die Taschen und Ärmel mit Schnüren bordiert; wie uns die beiden Herren von vergilbten Stichen her vertraut sind, dazumal, als sie in Hessen und anderswo Märchen zusammentrugen, damals, als der Wald noch Wald war. (Unser Herr Matzerath meint, viel gäbe es jetzt nicht mehr zu sagen.) Ich lasse Wilhelm Grimm dennoch den Satz: »Setzt euch nur zu uns, Kinder!« Und einladend soll Jacob Grimms Untertitel heißen: »In solcher Gegenwart ist kein Bleiben. Wir sind nicht mehr erwünscht.«
Es könnten nun artig Hänsel und Gretel ihren Knicks, ihren Diener machen und zweistimmig sagen: »Ahnte uns doch, daß wir nicht allzeit verloren sind.«
Sie steigen in die Kutsche, die ohne Kutscher, nur von vier Schimmeln gelenkt, nicht etwa vorwärts, vielmehr die Kutsche voran, die Schimmel hinter sich trabend, in die Vergangenheit fährt, deren Verlauf unterhaltsam ist: es begegnet den Reisenden allerlei einfaches Volk.
Links und rechts des holprigen Wegs, der bald den Wald verläßt, dann jedoch, zwischen Wiesen und Kornfeldern, weiterem Wald zuläuft, sehen wir Menschen in alter Tracht, in Lumpen und uniformen Monturen ausschreiten, sich Schritt für Schritt mühen, flott unterwegs, schwer beladen: Das alte Weiblein krumm unterm Reisigbündel, der Mann, der den Bienenstock trägt, die Kiepenfrau, der Bauer, das Kalb am Strick, zwei wandernde Handwerksburschen, die Gänsemagd, der Bettelbub, aber auch landlose Leute und in Ketten Gefangene, die von Soldaten allseits bewacht sind.
Doch wie die Kutsche, in der sich Hänsel und Gretel mit den Grimmbrüdern gefunden haben, rückläufig ist, so treten alle, die ihnen begegnen, Schritt nach Schritt hinter sich: Als werde das
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