Die Rättin
weiteren Menschlichkeiten der Nippels ablenken: Übrigens wandert unsereins wieder. Abermals haben wir Zuzug aus Rußland bekommen. Und neulich trafen erste Einwanderer aus Indien ein. Interessante Nachrichten bringen die mit. Zwar gibt es Kiew und Odessa als Städte nicht mehr, aber auch dort sollen Menschenratten zu Fuß und per Schiff aufgetaucht sein. Gleiche Nachricht von der Malabarküste. Selbst wenn nur die Hälfte dieser Meldungen stimmt, wäre es falsch, einfach wegzuhören. Immerhin wissen wir nun, was anderswo Sache ist. Die indischen Manippels sollen wie unsere beschaffen, doch zusätzlich geflügelt, ja, wie Engel geflügelt sein; von den russischen heißt es: Sie haben ein Vierergesäuge und können sich schneller als unsere Schweden vermehren. Ach, rief die Rättin, hätten wir die nur sogleich fix und fertig gemacht, wie die russischen Watsoncricks, die grusinischer Herkunft gewesen sein sollen, gleich nach der Anlandung erledigt wurden. Zwischen den Trümmern der Stadt Odessa hat unsereins sie zu Tode gehetzt. Die in Kiew hingegen sind mächtig geworden. Es sollen, so unglaublich das klingt, US-Produkte sein, die kurz vor Schluß der Humanzeit subversiv eingeschleust wurden: ziemlich massive schwarze darunter.
Das alles hätte unser Herr Matzerath gerne zum Videofilm verarbeitet. Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, daß seine Firma das wunderbare Überleben der Rattenmenschen und deren Fortentwicklung in vorproduzierten Kassetten demnächst bereithält; wie Oskar den hundertundsiebten Geburtstag seiner Großmutter Anna Koljaiczek bis ins geringste kaschubische Detail vorgewußt, mit Hilfe der Firma Post Futurum produziert und der Geburtstagsgesellschaft, bis auf die Schlußsequenz, zur Ansicht gebracht hat.
Er weiß, wie man Zukunft einfängt. Geschmäcklerisch versteht er es, Kommendes vorzukosten. Den Vorschein, von dem Bloch sprach, setzt er in Szene. Doch muß unser Herr Matzerath alles, nicht nur sich und seine korrekt gekleidete Fragwürdigkeit, nein, alles was geschah, geschieht und geschehen wird, historisch einbetten, so auch den Anteil der Rattenmenschen am Verlauf der posthumanen Geschichte. In seinem Videofilm, der wie angekündigt in großer Auflage vertrieben werden und den Videomarkt überschwemmen soll, umschifft »Die Neue Ilsebill« nicht etwa schnurstracks die Halbinsel Hela, um Kurs auf die Danziger Hafeneinfahrt zu nehmen, vielmehr muß das Wrack warten, damit jene Goten, die vor mehr als tausendfünfhundert Jahren durch Losentscheid ausgesiedelt wurden, sich auf Wanderung begeben können. Vom Weichselmündungsgebiet bis ans Ufer des Schwarzen Meeres verfolgt sie unser Herr Matzerath. Ins entlegene Hispanien und den italienischen Stiefel runter zieht er mit ihnen. Und immer räumen Ratten wechselnde Lagerplätze ab, sind Ratten diversen Schlachtfeldern beigesellt. Die auf den 26. Juni 1630 datierte Anlandung des Schwedenkönigs Gustav Adolf, auch »Lew aus Mitternacht« genannt, muß gleichfalls herhalten, um den Auftritt der Rattenmenschen vorzubereiten. Da unser Herr Matzerath immer wieder, als müsse er das Kleinwüchsige seiner frühen, das Bucklichte seiner späteren Existenz aufheben, großzügige Panoramen entwirft und Weitläufigkeiten Punktumgeschichten vorzieht, hat er des Schweden Anlandung auf Usedom wer zählt die Schiffe, wer die Segel? mit Satzkaskaden aus des Großmeisters Döblin Roman »Wallenstein« kommentiert; indem der Videofilm beidhändig ausholt, entreißt er einerseits der Vergangenheit in Fetzen Geschichte, und stiehlt er andererseits der Zukunft den kühnen Entwurf.
Selbstverständlich machen auf Gustav Adolfs Schiffen Ratten die Überfahrt mit. Noch ist es die Schwarze Hausratte und nicht die graue Wanderratte, die Europas Geschick bestimmt. Und selbstverständlich gehen mit den schwedischen und finnischen Bauernsöhnen Ratten an Land, um fortan bei Nördlingen und Lützen, bei Wittstock auch, wo immer der Krieg verlängert wird, geschichtsträchtig zu sein.
Daß nun auch noch im Jahre nullvier des russischen Admirals Rosjéstwenski Baltische Flotte im Hafen und auf der Reede von Libau ankert, damit wir sehen, wie eilends Ratten das anrüchige Geschwader verlassen, mag einigen Betrachtern des demnächst käuflichen Videofilms als überflüssig erscheinen, doch wollte der Produzent der Kassette nichts auslassen. So ist er nun mal. Immer das noch und das. Sogar schwermütig singen läßt er die russischen Matrosen auf ihren rattenfreien Pötten.
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