Die Rättin
Lebenszeit immerfort wachsen. Besorgt sehe ich ihrem Wachstum zu. Sie könnte nicht mehr sein eines Tages, erstarrt rücklings liegen, verreckt. Was werde ich mir auf Weihnachten wünschen, wenn es kein Rättlein, nur noch Malskat mit seiner verjährten Geschichte, unseren Herrn Matzerath auf dem Videomarkt, ab und zu Damroka und bei laufendem Dritten Programm mich, aus allen Träumen gefallen, nur mich noch gibt?
Die Rättin behauptet, es sei den Watsoncricks gelungen, das Wasserspiel des Neptunbrunnens und in Sankt Marien das Orgelwerk auch wieder in Gang zu setzen; und kaum aus Polen zurück, will unser Herr Matzerath jene vorproduzierte Kassette, die den hundertundsiebten Geburtstag seiner Großmutter vorweggenommen hat, in den Videohandel bringen.
Die Orgel in der Marienkirche brannte gegen Ende des Zwischenkrieges aus, doch wurde kurz vor Schluß der Humanzeit ein neues Orgelwerk dem geretteten Prospekt der Johanneskirche eingebaut.
Jetzt hat unser Herr Matzerath vor, einen mehrteiligen Film zu produzieren, der sich dem Thema Adenauer-MalskatUlbricht stellen soll. »Fälscher am. Werk« könnte der Arbeitstitel heißen oder »Falsche Fuffziger« nur.
Die Rättin sagt, es gefalle den Rattenvölkern, Orgelkonzerten zu lauschen, die ihnen die Watsoncricks allsonntäglich bieten. Kürzlich soll unser Herr Matzerath den Maler Malskat auf seiner Insel im Deepenmoor aufgesucht haben. Natürlich fuhr unser Herr Matzerath mit Chauffeur im Mercedes vor. »Hol über!« rief Oskar, als er sah, daß keine Brücke zur Moorinsel führt. Malskat holte das bucklichte Männlein mit dem Ruderboot. Der Chauffeur mußte beim Mercedes warten. Im Dritten Programm, das immer Bescheid weiß, ist Bach jetzt dran: Toccata und Fuge F-Dur. Aber auch Buxtehude, sagt die Rättin, ist den Watsoncrick geläufig. Es soll kein Geheimnis bleiben, was sich die beiden älteren Herren auf der Moorinsel zu sagen hatten.
Während der eine in enger Stube dennoch, als wäre ihm kürzester Auslauf genug, auf und ab ging und dabei die Hände beredt verwarf, hörte der andere zu, den ewigen Wollmützenfilz halb über die Ohren gezogen. Der eine sagte: »Eigentlich sollte der sterbende Wald in Produktion gehen, aber Ihr Fall geht vor.« Der andere schwieg.
»Man muß das alles, die Vernichtung der Chorheiligen und Grimms Wälder als Folge und Einheit sehen«, sagte das bucklichte Männlein auf seinem Weg auf und ab. Unter der Wollmütze entfiel dem Maler nur selten ein Wort, allenfalls Handwerkliches zum Detail.
Zwischendurch sprachen beide, wie um Abstand und Anlauf zu nehmen, von ihrer Kindheit. Sie nannten Danzig und Königsberg unvergeßlich. »Entscheidend war«, sagte der eine, »daß mir meine arme Mama zum dritten Geburtstag eine Trommel aus Blech, die weißrot lackiert war, geschenkt hat, worauf ich mein Wachstum einzustellen beschloß.« »Schon als Kind«, sagte der andere, »malte ich viel, wobei mir in meines Vaters Antiquitätenhandel altmeisterliche Tafeln zum Vorbild wurden.« Dann ließen beide ihre Jugend auf sich beruhen und fühlten sich, kaum hatten sie die Kriegszeit mit wenigen Sätzen beendet und die anschließende Schwarzmarktzeit armselig, aber vergnüglich genannt, in den fünfziger Jahren zu Hause.
»Es hätte«, sagte der eine, »jener amerikanische Song, der immer wieder von einem Quartett namens The Platters vorgetragen wurde und dessen Titel Sie erinnern sich gewiß, lieber Malskat recht überzeugend The Great Pretender geheißen hat, durchaus den beiden deutschen Staaten als Nationalhymne dienen können, selbstredend in Plural gebracht.«
»We are the Great Pretenders« sang der eine, worauf der andere einen Karnevalsschlager der fünfziger Jahre vorschlug, nach dessen Wortlaut immer wieder die Frage nach der Bezahlung gestellt wird.
»Unser Film«, sagte unser Herr Matzerath, »der das neue Medium, die Video-Technik der fließenden Übergänge nutzen wird, sollte besonders jungen Menschen, die weder Lug noch Trug ahnen, bildmächtig die Augen öffnen, auf daß ihnen die Ära der Großfälschungen endlich bekannt wird.«
»Ich habe«, sagte der Maler Malskat, »meinen kleinen Anteil am großen Schwindel immerhin selbsttätig auffliegen lassen. Plötzlich hörte der Spaß für mich auf.«
Da sagte, indem er zu längerer Rede bereitstand, unser Herr Matzerath über den Maler Malskat hinweg: »Wir beginnen mit dem Einrüsten gegen Ende der vierziger Jahre, zeigen also, indem wir von Tatort zu Tatort beispielhaft wechseln, wie
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