Die Rättin
alte Weiblein vom Reisigbündel, der Mann vom Bienenstock, des Töpfers Frau von schwerer Kiepenlast und der Bauer vom Kalb mit dem Strick gezogen. Nach rückwärts wandern singend die Handwerksburschen. In den Stall zurück treiben die Gänse die Magd. Hinter sich betteln will fortan der Bub. Und auch die Landlosen und Gefangenen hoffen samt Wachsoldaten, wenn sie einander nur weit genug ins Reich Eswareinmal schleppen und treiben, Land endlich zu finden, besser besoldet und frei von Ketten zu sein. So viel verspricht die Vergangenheit.
Hier könnte der Stummfilm »Grimms Wälder« enden. Wem aber der rückgewendete Schluß des stummen Films vom sterbenden Wald und vom Ende der Märchen zu verheißungsvoll, von Hoffnung geschönt und nicht böse genug ist, der möge, rät unser Herr Matzerath, die Zeitung aufschlagen und lesen, bis daß ihn Zorn überkommt, was des Kanzlers Experten zu sagen haben. Das Märchen von Hänsel und Gretel ist jedenfalls aus.
Ach Ratte, Rättlein! Was bleibt uns noch außer dem Dritten Programm? Wo ist noch Hoffnung? Mit wem zur Hand könnte ich, wenn mir träumt, sagen: Noch sind wir! Es gibt uns! Wir wollen und werden...
Sicher, Malskat ist da. Mitgenommen von so viel vergangener Gegenwart haust er auf einer Insel im Deepenmoor bei Lübeck und nahe der todsicheren Grenze zwischen den Staaten, die einander jeweils ein anderes Deutschland vortäuschen. Als ehrlicher Trugbildner hat er seine Zeitgenossen, die bis zum Schluß Fälscher blieben, überlebt, kümmerlich zwar, aber doch allseits geachtet, während der alte Fuchs und der sächselnde Spitzbart uns bitter aufstoßen.
Und wenn ich, Rättlein, behaupte, nicht nur Malskat, auch unser Herr Matzerath ist immer noch da und produziert marktgängige Videokassetten, solltest du mir, der ich gleichfalls noch bin und nur zeitweilig in meiner Raumkapsel hocke, glauben, daß es so ist. Ich habe dir, was du gerne magst, Käsebröcklein gebracht. Ich beweise mich dir durch Streicheln, Gutzureden, mit frischer Streu. Und auch Damroka, die es wiederum gibt, kommt manchmal mit ihrem Kaffeepott auf einen Sprung vorbei und sieht uns zu, wie wir korrespondieren.
Bliebe einzig die These zu widerlegen, nach der alles Täuschung und Nachglanz nur ist. Es heißt: Wir sind gar nicht mehr, werden scheintätig nur geträumt von einzig wirklichen Rattenvölkern, die uns, die wir mal waren, immer aufs neue erfinden, damit der Mensch den Ratten als Vorstellung nicht ausgeht. Willentlich träumen sie mich, dich, deinen offenen Käfig, die Käsebröcklein und Malskat auf seiner Insel im Deepenmoor, desgleichen Damrokas Kurzbesuche, den medienverrückten Herrn Matzerath und das Dritte Programm, dessen tapfere Sprecher behaupten, es gehe weiter, es lohne zu leben und Schulfunk für alle zu hören. Hoffnung finde sich, wenn auch nur krümelgroß. Alle Gefahren seien abwendbar durch Vernunft und Verzicht und allumfassendes Umdenken. Man müsse nur wollen. Dann lasse sich wiederum Zukunft planen. Bei aller Skepsis, das Jahr Zweitausend komme bestimmt. Es heißt sogar: Man werde die restlichen Wälder mit Schutzhäuten beschichten; man könne unter Glaskuppeln frische Luft für Großsiedlungsräume garantieren; der Hunger ließe sich gentechnisch aufheben; bald wisse man Mittel, den Menschen auf Dauer friedlich zu stellen; auch bequeme die Zeit sich allmählich, voroder nachgeholt verfügbar zu sein; man müsse nur, sagt das Dritte Programm, den Willen haben zum Wollen und umdenken möglichst bald...
So leben wir fort, geträumt von einzig wirklichen Rattenvölkern, deren Geschichte Fortschritte macht. Immer mehr, sagt die Rättin, fällt den Watsoncricks zu. Was unseres Herrn Matzerath Videofilm als Ausblick bot, ist wohlorganisiert tatsächlich geworden: Sie haben im Raum Danzig-GdaDsk ein Abgabesystem entwickelt, das den Menschenratten Nahrung im Überfluß und allen Rattenvölkern, die Ackerbau betreiben, ländlichen Besitz garantiert.
Wie immer man Machtverhältnisse regelt, ohne Eigentum geht es offenbar nicht; eine nunmehr auch posthumane Einsicht. Könnte es sein, daß wir, von Ratten geträumt, auf jene Rattenmenschen, von denen uns träumt, konstruktiv Einfluß gewinnen? Es soll ja vormals, als Mann mit Bart, Gott allen Bildern gefällig gewesen sein, die wir uns machten von ihm. Sie wächst. Meine Weihnachtsratte wächst zusehends. Ich staune. Dabei ist bekannt, daß ordinäre Wanderratten, desgleichen Laborratten während ihrer drei Jahre anhaltenden
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