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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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im Innenraum der Lübecker Marienkirche das große Gerüst wächst, blenden sodann die Vorbereitungen zur Ausrufung des einen wie des anderen Staates ein, hier etwa den Eifer des Parlamentarischen Rates, dort zwischen Pankow und Karlshorst beflissenes Hin und Her, um nun auf drei Ebenen das gesamtdeutsche Fälscherwerk einzuleiten, wobei Russen und Amerikaner nebst Kunstexperten von Anbeginn ahnen, daß jeweils Trugbilder entstehen, doch nicht begreifen wollen, wie glaubwürdig jedem Schwindel, wenn er lang genug dauert, Wirklichkeit zuwächst. Da in der Marienkirche nur rieselnder Farbstaub von alter Wandmalerei zeugt, muß eines ostpreußischen Malers Hand gegen geringen Stundenlohn gotische Säulenheilige aus dem Nichts, nein, aus des Malers Fundgrube schöpfen, die seit seiner Kindheit angereichert ist. Desgleichen erfüllen sich hier frühe Wunschträume von rheinisch-klerikalem, dort von sächsisch-preußischem Zuschnitt. Auf soviel Gelegenheit haben jene Staatsmänner, indianischen Aussehens der eine, biedermännisch der andere, lange warten müssen; es wurde dem Maler mit gotischem Fundus so viel Fläche noch nie geboten. Schon heißen die staatlichen Trugbilder Republik, die Wandmalereien: das Wunder von Lübeck. Zwar werden hier wie drüben, so auch im Gewölbe des Hochchors Hakenkreuze weggemeißelt, zwar löffelt man hier wie dort den hier demokratisch, dort kommunistisch gesättigten Lernstoff, auf daß er eingeht wie Milchsuppe, aber noch lange hallt hinter neuen Fassaden das Geschrei von gestern; es stinken Leichen aus noch so sorgsam vermauerten Kellern; etlicher Lübecker Pfaffen kackbraunes Ansehen bereitet Mühe, in neuer Unschuld gottwohlgefällig zu sein. Doch der Schwindel gelingt! Soeben noch um Nachsicht bettelnde Besiegte haben sich ihrer jeweiligen Siegermacht eingenistet. Was heißt hier Laus im Pelz! Schon sind sie militärisch zurechnungsfähig aufs neue. Sie rufen Bauauf Bauauf! und Esgehtwiederaufwärts! Sie reden von Schuld, wie man von Schulden und Tilgungsraten redet. Bald sind die einen weniger arm als ihre erschöpfte Siegermacht, fest glauben die anderen sich demnächst reicher als ihre benachbarten Sieger; und auch die Wandmalereien in der Lübecker Marienkirche geben weit mehr her als jemals dagewesen. Hier wird nicht gekleckert mit Gotik, hier wird geklotzt. Überall steht, liegt, kniet man ergriffen vor allumfassendem Scheinwerk. Und alle Welt staunt, wie rasch sich eine Niederlage ins Gegenteil kehren läßt. Auferstanden aus Ruinen! Wir sind wieder wer! singt, ruft man und schlägt sich auf die Schulter. Das soll uns mal einer nachmachen. Gestern noch letzter Dreck und heute? Nun ja, ein trauriger Aufstand der Arbeiter verregnete drüben, ein mehr gemurmelter als lautstarker Ohnemichprotest verlief sich hier. Skandale, Peinlichkeiten genug, aber die gibt es anderswo auch. Man muß nur brav sein und der Großsieger Lieblingskind bleiben, niemanden aufs Baugerüst lassen, oft genug vom ersten deutschen Arbeiterund Bauernstaat, von unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung und von der stilbildenden Kraft norddeutscher Gotik sprechen, dann wird der Schwindel allenorts eingesegnet. So geschehen in Bonn, Pankow, Lübeck, wo während der Siebenhundertjahrfeier sogar der Meisterfälscher Adenauer als Kanzler dem Trugbild aufsitzt; oder ahnte der Alte den Schwindel und bewunderte einzig die Machart? >Dat han se jutjemacht!< soll er gesagt und dabei katholisch gezwinkert haben...«
Unser Herr Matzerath hielt ein. Kleine Schritte machte er in Malskats niedriger Stube. Mit knappen Bemerkungen trug er noch dies und das zur Video-Produktion »Falsche Fuffziger« bei: Mode und Geschmack jener Jahre müßten bildhaft werden. Nicht nur die obligaten Nierentische und gähnend leeren Großformate gegenstandsloser Malerei, auch Messerschmitts Kabinenroller und etliche Borgwardkarossen gehörten ins Bild, zudem das Wachstum zweier Armeen. Es möge im Lied ständig bei Capri die Sonne im Meer versinken, Fritz Walter Fußball spielen, und überall müßten in Amt und Würden die Mörder unter uns sein. »Jadoch!« rief er. »Hinter Fassaden muß unentwegt das Verbrechen ticken, diese nicht abzustellende Uhr. Sagen Sie, bester Malskat, es heißt, Sie hätten im Ornament der Kapitelle, desgleichen im Faltenwurf Ihrer Heiligen gelegentlich Ratten, einzeln und paarweise Ratten versteckt...«
Malskat stritt ab. Eine Menge Fabelgetier gewiß, die Truthähne im Kreuzgang zu Schleswig seien von

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