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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Geburtstagsgesellschaft ein. Den Professor kannte sie schon. »Jener Oberkellner«, sagte ich, »der den zu süßen Sekt serviert, ist sein Chauffeur Bruno und tauglich für alles.«
Anfang September. Draußen Altweibersommer. Durch die Fensterfront zur Veranda sickerte Abendlicht. Damroka mißfiel das Genie in Bergsteigerschuhen: »Der spiegelt sich immerzu.« Über der locker gruppierten Versammlung lag die Stimme des Professors, der wie zu weit größerem Publikum sprach. Mit Bezug zum immer noch abwesenden Gastgeber wies er auf seine grundlegenden Ausführungen zur Rolle des Außenseiters hin. Einer der Filmemacher, dem es vor nicht allzu langer Zeit gelungen war, mit eigener Produktion den Jugendjahren des Geburtstagskindes nahezukommen, bestätigte: Genau das, Oskars exemplarisches Außenseitertum habe er zeigen wollen. Da trat er auf. Nicht wie erwartet durch die Doppeltür, durch einen seitlichen Einlaß, den man Tapetentür nennen möchte, fand unser Herr Matzerath zu seinen Gästen. Verzögert entdeckt, applaudierte man ihm.
Wir sahen ihn verlegen. Er wollte sich keinem Grüppchen gesellen. Jacke wie Hose großkariert. War seine Brille beschlagen? Irritiert suchte er die Versammlung ab, übersah mich, trotz Damroka, vermißte wohl diesen und jenen, Malskat gewiß, gab sich Haltung plötzlich und begrüßte vor allen Gästen Maria, die sich zum Wangenkuß beugen mußte, was seiner zur Matrone erwachsenen Jugendliebe seit eh und je peinlich gewesen ist. Kurtchen futterte fern am Büffet: Lachshäppchen, Krusten vom Schweinebraten.
Danach blieb unser Herr Matzerath umringt. Glückwünsche über Glückwünsche nahm er entgegen. (Jenem Filmemacher, der ihn, auf Anraten des Professors, als Außenseiter erkannt hatte, war er herzlicher zugetan als mir, dem er seinen Dauerkatheter verdankt.)
Und was ihm nicht alles geschenkt wurde! Auf langem Tisch lagerten Päckchen, sogar Pakete ab. Nur flüchtig nahm er wahr, was offen lag, doch schien ihn die polnische Ausgabe seiner Erinnerungen zu erfreuen: »Spät, aber immerhin.« Als ich ihm Damroka, die auch mich überragt, vorstellte und er, den Glatzkopf im Nacken, schräg zu ihr aufblickte, gelang ihm jenes Lächeln, das jedem, den es betrifft, plötzliche Hitze eingibt und dennoch frieren macht. »Ich verstehe«, sagte er, mehr nicht. Dann war er wieder umringt.
Es ließe sich noch viel zum Beginn der Geburtstagsfeier sagen. Etwa: Das bald eröffnete Büffet war in Marias Feinkostabteilung zum Sonderpreis berechnet worden. Oder: Nach Freigabe der Terrasse beeilten sich die Japaner, Gruppenfotos mit dem Geburtstagskind zu knipsen, darunter eines, das Oskar zwischen Damroka und mir zeigt. Oder: Kurtchen erzählte unserem Herrn Matzerath aufdringlich von seinen Schulden, wobei er »Bruderherz« zu ihm sagte. Oder: Ein Spätsommerabend, keine Mücken, Heiterkeit, güldene... Doch drängt es mich nun, Schatten auf dieses Fest zu werfen, so natürlich und nur an den Rändern gekünstelt es zu verlaufen versprach.
Es war Bruno, der die Nachricht auf silbernem Tablett als Telegramm brachte. Sonstige Telegramme und eilige Glückwünsche hatte er bisher auf dem Gabentisch gestapelt, dieses trug er aus. Mag sein, daß Brunos Manier, besondere Botschaften verschleppt, wie gegen Widerstand auszutragen, der Geburtstagsgesellschaft zunehmend Stille befahl; nach mir merkte jener Filmemacher auf, der Oskars Befindlichkeiten zeitweilig nah gewesen ist, dann der Professor, schließlich spürten alle, daß etwas nach fremder Regie geschehen sein mochte. Sagte ich schon, daß unser Herr Matzerath beim Lesen die Brille abnimmt? Er hielt sie seitlich, den kleinen Finger gespreizt. Er las, blickte um sich, war ganz im Besitz alles durchschauender Blauäugigkeit, winkte mit knapper Geste Kurtchen herbei, sagte »Mein Sohn« zu ihm, ferner: »Sie war deine Urgroßmutter« und bat ihn, das Telegramm zu verlesen.
In Matarnia vom Priester des gleichnamigen Kirchspiels aufgegeben, sprach der Telegrammtext den Tod Anna Koljaiczeks aus. Es hieß, sie sei im biblischen Alter entschlafen. Kurtchen war seiner Aufgabe nicht gewachsen, er stotterte, buchstabierte sich durch. »Wir trauern mit Ihnen«, hieß es zum Schluß.
Bruno wird geahnt haben, wie unser Herr Matzerath dem Tod seiner Großmutter zu begegnen imstande war: Er goß allseits so umsichtig nach, daß Oskars Wunsch, man möge mit ihm und im Gedanken an Anna Koljaiczek, das Glas heben, sogleich erfüllt werden konnte. Dann verbat er sich

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