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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Man hat meiner Stimme, die allerdings schneidend war, mehr Gewalttaten nachgesagt, als ich verbürgen möchte; doch ich verlor mein schützendes Medium in böser Zeit. Als es dann wieder aufwärts ging und die falschen Fuffziger Hoffnung auf mehr und mehr machten, habe ich, weil der Stimmverlust endgültig war, auf das Blech meiner Kindheit zurückgreifen müssen. Indem ich ein überholtes Instrument abermals belebte und auf ihm Vergangenheit beschwor, gelang es mir, so lange Konzertsäle zu füllen, bis jedermann das Vergangene satt hatte. So lebte ich schlecht und recht von Zinsen und Erinnerungen, wollte schon aufgeben und der allzeit gewärtigen Schwärze das letzte Wort lassen, da wurden mir neue Medien gefällig. Besonders liegt mir die intime Videokassette. Sie eignet sich für den Hausgebrauch. Kurzum: ich fand meine Marktlücke, produzierte aufklärende Erotik leicht über Mittelmaß, entdeckte dann aber, als sich das Ende aller Humangeschichte immer absehbarer vorwegnehmen ließ, ein Betätigungsfeld, das meinen Talenten entspricht. Nach letztem Rückblick, den ich mir und dem Maler Malskat schuldig bin, soll mit der Ausfahrt des Schiffes >Die Neue Ilsebill< unser Ausklang dokumentiert und der Verlauf posthumaner Geschichte vorweggenommen werden. Freilich hätte ich den Neuschweden mehr Ratteninstinkt und weniger menschliche Vernunft gewünscht. Aller Voraussicht nach spricht die Entwicklung für einen kurzen Prozeß. Unruhe hat sich der beherrschten Rattenvölker bemächtigt. Leider wird alles seinen vorbestimmten Gang gehen. Um eine Prognose zu wagen und gleichzeitig mit meiner kürzlich verstorbenen Großmutter zu sprechen: »Da mecht nuscht nech blaiben von.«
    Nicht im Werder, es beginnt in der Kaschubei. Von den Rändern der Maisund Gerstenfelder verschwinden die doppelten Nippels. In großflächig angebauten Sonnenblumenkulturen gehen sie unter. Plötzlich von Ratten, immer mehr Ratten befallen, endet ihre Aufpasserpflicht. Kinderleicht sieht das aus. Als spiele man Räuber und Gendarm. Das hätte man lange zuvor schon gekonnt. Ratten, die soeben noch über Maisstrohglut geröstete Mastratten hätten sein können, nagen nun manipuliertes Fleisch vom Gebein.
Nein, falsch. Bevor es in der Kaschubei, dann im Werder beginnt, geschieht etwas. Jener schmiedeeiserne Schriftzug der zuletzt im Rathaus Museumsstück war, ist verschwunden. Die Neuschweden vermissen die eiserne Schrift zwar, geben dem Diebstahl aber kein besonderes Gewicht gelegentlich wurde dies und das, einzelne Schlümpfe zum Beispiel gestohlen -, doch begehen sie nun einen Fehler, indem sie, ihrer Macht allzu sicher, der schmiedeeisernen Schrift Aussage und bis in die Humanzeit zurückreichende Bedeutung unterschätzen. Jedenfalls bricht, kaum ist das eiserne Wort entführt und seitdem im Untergrund wirksam, nach und nach alles zusammen, was die Watsoncricks zur Sicherung ihres Systems aufgebaut hatten.
Gewiß es kommen neue Aufpasser. Aber auch sie verschwinden in den Feldern, bleiben verschollen, sind auffindbar als Gerippe nur noch. Der Transport von Maiskolben und Fruchtkörben der Sonnenblumen, Gersteund Linsenfuhren verzögern sich, werden gestört, finden immer seltener die städtischen Zentrallager Große Mühle, Hotel Hevelius, Zeughaus, Stadttheater und Leninwerftkantine, hören schließlich ganz auf. Strafexpeditionen stoßen ins Leere, werden in die Irre geführt, verzetteln sich im Schwemmland der Weichselniederungen, in den gehügelten Feldern der Kaschubei, erschöpfen sich und kehren dezimiert zurück. Nachdem die Außenposten Kartuzy und Novy Staw, zudem in Küstennähe jenes gesicherte Trümmerfeld, das vormals Oliva hieß, gefährdet, nicht mehr zu halten sind, ziehen sich die Neuschweden hinter die Grünstreifen der Schlammwälle ins Stadtgebiet zurück. Die Kasematten im Hagelsberg werden geräumt. Dann wird der Bischofsberg aufgegeben.
Jetzt erst fahnden sie ernsthaft nach dem verschwundenen Museumsstück. Alle Sakristeien, die Keller der Werftkantine stehen unter Verdacht. Der gestohlene Schriftzug soll mal hier, mal dort kurz gesichtet worden sein. Kein Erfolg. Einzig Gerüchte nehmen zu. Im Bereich der Speicherinsel, auf dessen Gelände dicht gedrängt junge Mastratten konzentriert sind, kommt es im Verlauf von Suchaktionen, ohne daß die Schrift gefunden wird, zu Zusammenstößen: abschreckend müssen Massenschlachtungen angeordnet werden. Auch auf dem Gelände der Leninwerft, desgleichen in jenen Kirchen, die als

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