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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Ort geheimer Rattenversammlungen in Verruf sind Sankt Birgitten zum Beispiel -, bleibt die Suche nach dem Wort erfolglos. Dabei liegt es in der Luft, flüstert sich fort und fort. Es wird verboten, das Vermaledeite, das Unsägliche auszusprechen. Selbst die verschlumpfte Weitergabe des Viersilbers steht unter Verbot. Weil im Zustand der Trunkenheit lauthals das Wort wiederholt gegrölt wurde, und weil Gerste ohnehin nicht mehr geliefert wird, ist ab sofort jegliches Bierbrauen untersagt. Hilflos mutet es an, wie sie in Doppelreihen das Zeughaus, die Mühle, den Hotelhochbau, alle Vorratslager bewachen, denn noch ahnen sie nicht, daß ihre Kornund Kernvorräte von unten weg schwinden, durch Wühlgänge abgezogen werden, als wirke im Untergrund mächtiger Sog. Keine der stockwerkhohen Aufschüttungen ist zu halten, sie fallen treppab. Nachdem nun auch die übergroßen Mastratten aufständisch geworden sind und ihre Mastfutteranlage, dann die gesamte Speicherinsel, zuletzt den Bleihof in Besitz genommen haben, so daß von der neuschwedischen Verwaltung des konzentrierten Fleischlagers nichts außer Knochen und blondem Gewöll geblieben ist, beginnt der Hunger, beginnt das Aushungern der Menschenratten.
Ich sehe sie unsicher, ängstlich. Nichts mehr von skandinavischer Ruhe und gotländischem Wagemut. Sie verkriechen sich in die Häuserzeilen der Rechtund Altstadt. Ihnen gewohntes Gasselaufen, etwa die Frauengasse rauf, die Langgasse runter, ist gefährlich geworden. Weil es den Rattenvölkern gelingt, durchs immer noch offene Kanalisationssystem in alle Altund Neubauten einzusickern, indem sich Ratte nach Ratte durch steigende Rohrleitungen zwängt, wird die Lage der Neuschweden nun auch von innen her unsicher, unhaltbar. Ihre letzte Zuflucht heißt Sankt Marien. Das wird als Weisung von Haus zu Haus gerufen.
Ich sehe, mit welcher Hast, wenn auch in Formationen, sie vom Holzund Kohlenmarkt abziehen. Stockturm, Rathaus und Langer Markt werden geräumt. Flucht von der Hundegasse durch die Beutlergasse. Vom Hakelwerk und der ehemals Polnischen Post flüchten sie in Keilformationen auf die Mottlau zu, über den Fischmarkt, die Lange Brücke, durchs Heiliggeisttor. Durch alle Tore in drangvoller Enge. Inzwischen ungeordnet der Marienkirche entgegen, wo sie alle es mögen zum Schluß knapp zwanzigtausend sein verhungern werden, wenn kein Wunder geschieht. Doch bietet ihnen die weiträumige Hallenkirche keine rettende Ausflucht oder gar Wundertätiges, denn jeder Blick nach oben zeigt nur neue Gefahren auf: in allen Gewölben, jeden Strebpfeiler bis zum Schlußstein hoch hängen, zu Trauben gebündelt, Jungratten; geduldig warten sie ab.
Nur mühsam läßt sich der Ausbruch von Panik dämmen. Außer Hunger setzt den Watsoncricks bald eine Seuche zu. Es ist, als kämpfe in ihnen Gen gegen Gen. Offenbar bricht verstärkt Menschliches durch. Bei kleinstem Anlaß gehen sie sich an die Kehle. Sie würgen einander ab. Die Zahl der Kadaver wächst sich im Mittelschiff zum Leichenberg aus. Schon müssen sie den Altarraum aufgeben, jetzt die Orgelempore, von der bis dahin Musik als Trost kam, zuletzt eine Passacaglia. Aus Furcht, von allen Ausgängen abgeschnitten zu werden, sammelt sich der schwindende Rest zum Nordportal hin. Keine Hundert sind es mehr, und täglich zählen sie weniger. Sie versuchen es, schaffen es nicht, es widert sie an, einander zu fressen. Am Ende raffen sich die letzten Neuschweden auf es sind fünf, nein, ich zähle neun, zwölf und verlassen das Totenhaus.
Über die Frauengasse suchen sie Ausflucht. Sie schleppen sich an Beischlägen vorbei, die von Ratten besetzt sind. Auf Gesimsen, Portalfassungen, in allen Fenstern drängen sie dicht bei dicht. Es werden die letzten zwölf nicht angefallen, und doch sind es jetzt nur noch neun, dann acht, sieben, die durchs Frauentor auf die Lange Brücke finden. Fünf, von denen eine ausgezehrt meine Damroka ist, wollen vom Grünen Tor über die Brücke zur Speicherinsel, schaffen es auch zu fünft, doch wie sie, Damroka voran, das andere Mottlauufer erreichen und auf ihr Schiff wollen, sehen sie Die Neue Ilsebill übers Deck hin von Ratten bewohnt.
War das nicht vorauszusehen? Und wie hätten sie jenes Wrack, das lange Zeit als Sehenswürdigkeit von Gruppen besucht werden durfte, wieder seetüchtig machen wollen? Und wohin, wäre der Diesel angesprungen, hätten die Letzten sich retten können?
Es sind junge Mastratten, vormals schmackhaft genannt, die das Deck und die

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