Die Rättin
Verbrechen.
Ähnlich sieht das unser Herr Matzerath, der, gleich dem gehetzten Getier, sein Leben lang Zuflucht suchte, selbst wenn ihm einfiel, als Fänger zu posieren. Er sagt: »Wann immer von Ratten und deren Ausrottung die Rede war, wurden andere, die augenfällig keine waren, wie Ratten eliminiert.«
Er hat eine Adresse, schreibt Briefe und erhält Post. Seit ihm vor zwei Jahren ein Gallenstein entfernt wurde, nennt er sich gesund, klagt aber dennoch über Schwierigkeiten beim Wasserlassen: Nach ermüdenden Sitzungen und im Verlauf streitbarer Medienkongresse komme es zu schmerzhaftem Harnverhalt, vermutlich reize Streß seine Prostata, dennoch scheue er das Schälmesser der Urologen.
Er sammelt neuerdings Goldmünzen, trägt Seidenkrawatten, liebt rubinbesetzte Krawattennadeln, nimmt nach dem Rasieren Kölnisch Wasser und will am Abend nach Uralt-Lavendel duften, wohl um an seine arme Mama erinnert zu sein, die diesen lange haftenden Duft an sich hatte. Bis auf den gepflegt gewellten Haarkranz, der silbergrau schimmernd über den Kragen fällt, ist er kahlköpfig. Wie poliert glänzt seine zu jeder Jahreszeit gebräunte Glatze. Man ist versucht, sie zu streicheln; und es soll Frauen geben, die dieser Versuchung erliegen zählebige Gerüchte, denen er nie widerspricht.
Zwar sieht man ihn selten in Gesellschaft, doch sobald er einlädt, stellt sich das bucklichte Männlein zwischen ausgesucht hochgewachsene Damen und Herren, als müsse noch immer zu knappes Körpermaß betont werden. Deshalb sind seine Angestellten, vom Management bis in die Produktion, alle über einsachtzig groß. Diese Marotte ist in der Filmwirtschaft bekannt, wird aber nicht mehr belächelt, zumal Marktanteile deutlich machen, wer wen überragt. Seinen Kalender verplant er vorbeugend: Wütige Arbeitsphasen, die ausschließlich der Videofilmproduktion gelten, wechseln mit Phasen der Ruhe in abgeschiedener Lage; nicht nur seiner empfindsamen Prostata wegen sucht er Kurorte auf: Marienbad, BadenBaden, Lucca und Bad Schinznach in der Schweiz. Oft zitiert wird sein Lieblingssatz: »Zukunft haben einzig die Ratten, und unsere Videokassetten natürlich.«
Während er kurt und abseits vom Kurprogramm, denkt er sich aus, was sein Kopf hergibt: immer noch vielstöckige Thesen und deren Gegenteil. Mal will er Geschehen, das vor uns liegt, als hergestellte Zukunft filmen, damit sie, sobald sie gegenwärtig wird, als Film schon vorhanden ist; dann wieder verlangt es ihn, gefilmt zu sehen, was alles geschah, bevor es das Medium Film gab, zum Beispiel die Einschiffung in Noahs Arche. Nach streng geführter Strichliste soll alles, was kreucht und fleucht, paarweise ins Bild kommen: der Warzeneber, die Warzensau, Gans und Ganter, Hengst und Stute, und immer wieder das eine, besondere Paar, das nicht in die Arche darf und unverzagt dennoch versucht, sich zwischen die zugelassenen Nager zu schmuggeln. In Pausen, die er sich selten einräumt, wird ihm seine Kindheit gewichtig, der er sich alternd wieder zu nähern wünscht: der Sturz von der Kellertreppe, Besuche beim Arzt, zu viele Krankenschwestern... Doch Aufzeichnungen über sein Herkommen oder Bekenntnisse gar macht er keine mehr, so innig ihn die Damen seiner Wahl darum bitten. »Das ist alles gegessen!« sagt er. »Wir leben heute und zwar tagtäglich zum letzten Mal.«
Schon jetzt freut er sich auf den diesjährigen September, weiß aber noch nicht, wie sein sechzigster Geburtstag begangen werden soll: Will er still für sich sein einzig von Fotos umgeben oder zwischen hochbeinigen Gästen?
Doch zuvor soll Anna Koljaiczek, seine Großmutter, gefeiert werden: mit erlesenen Geschenken und einer Überraschung, die er sich in Bad Schinznach ausgedacht und gleich nach der Kur in Produktion gegeben hat.
Auf seinem übermäßig geräumigen Schreibtisch, der immer leer zu sein hat, liegt einzig jene einladende Postkarte, die stellvertretend der Pfarrer der Kirchengemeinde Matarnia, das früher Matern hieß, geschrieben hat: »... gebe ich mir die Ehre, mein Enkelkind, Herrn Oskar Matzerath, zu meinem 107. Geburtstag einzuladen.«
Diesen Satz liest er immer wieder, weiß aber nicht, ob er reisen soll. Einerseits fürchtet er sich vorm Zurück, andererseits denkt er sich Geschenke aus und erzählt überall vom bevorstehenden Fest. Da es ihm Freude bereitet, wenn ihn jedermann »unser Herr Matzerath« nennt, hört er nicht weg, sobald in seiner Umgebung geflüstert wird: »Stellen Sie sich vor: unser Herr
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