Die Rättin
Matzerath fährt womöglich nach Polen. Wissen Sie schon, daß unser Herr Matzerath eine Polenreise plant?«
Noch zögert er. Jemand, der bewußt sein Wachstum einstellte, dann doch wenige Zentimeter wuchs, betreibt sein altes Spielchen: soll ich, soll ich nicht.
Hinzu kommt, daß Bruno, der sonst als Chauffeur klaglos zu jeder Reise bereitsteht, diesmal Sorgen äußert und Gründe sucht, die Reise wenn nicht zu verhindern, dann zu verschieben. Er beruft sich auf Ärzte, die abgeraten haben. Er nennt die politische Lage in Polen unsicher. Er warnt vor militärrechtlicher Willkür. Ohne handfeste Gründe zu nennen, deutet er an, daß unser Herr Matzerath in Polen gegenwärtig unerwünscht ist.
Noch ist kein Visum beantragt. Dennoch kauft Oskar Seidenkrawatten und kleidet sich sportlich großkariert ein. Er lehnt ab, gegebenenfalls zu fliegen oder gar mit der Bahn zu reisen. »Wenn schon«, sagt er, »dann kehre ich im Mercedes heim.« Vorsorglich wird seine Münzsammlung angereichert, obgleich oder weil der Goldpreis, bei steigendem Dollarkurs, fällt. Als könnten ihn Umstände zwingen, uns für längere Zeit verlassen zu müssen, hat er für jedermann Ratschläge im Hut. Mir wird geraten, einzig dem Fall Malskat nachzugehen. Auf meine Bitte, endlich auch andere Projekte zu bedenken, antwortet er in Eile: »Über den Wald und Hameln reden wir später!« und läßt mich stehen mit meinen zuvielen Geschichten, die alle gleichzeitig aus ihren Anfängen drängen.
Bevor der Motorewer »Die Neue Ilsebill« die flache Insel Fehmarn hinter sich läßt und Kurs hält auf Møns steile Kreideküste, nehmen die Frauen an Bord des Forschungsschiffes nach vorgefaßtem Plan der Lübecker Bucht Meßproben ab. Weil genügend Daten über die Kieler Förde vorliegen, wird hier die Vertikalwanderung von Plankton erforscht. Mit sechs Netzen kommt der Meßhai zum Einsatz. Bei einer Holdauer von fünf Minuten und einer Wassertiefe, die längs der Meßstrecke zwischen achtzehn und dreiundzwanzig Metern schwankt, kann, neben dem Vertikalhol, aus fünf Tiefenstufen gleichzeitig geholt werden.
Während die Steuermännin den stufigen Quallenzähler ausfährt, bearbeiten die Meereskundlerin und die Maschinistin Ohrenquallen, deren Durchmesser mehr als vier Zentimeter beträgt. Die Qualle wird auf Höhe der Velarlappen gemessen. Kleinere Quallen heißen Ephyren, die größeren Medusen. Bei der Volumenbestimmung müssen die Medusen kurz abgetropft und dann als Masse in formalingefüllte Standzylinder getaucht werden. Natürlich wird bei der Messung die dadurch bedingte Schrumpfung berücksichtigt. Bei allen Größengruppen nimmt der Quallendurchmesser nach zwei Tage anhaltender Fixierung um etwa vier Prozent ab. Das alles und noch mehrzum Beispiel das Vergleichswiegen von Heringslarven und Medusen hat die Meereskundlerin während ihres spät begonnenen Studiums gelernt. Sie weiß, wie die Maschinistin, die eigentlich in einem Transportunternehmen tätig ist, und die Steuermännin, die ein Anwaltsbüro leitet, beim Zählen, Messen und Wägen der Medusen und Ephyren fachkundig anzulernen sind. Geduldig demonstriert sie angewandte Meereskunde. Nie wurde nüchterner über Medusen gesprochen.
Zuerst fischten die Frauen mit ihrem Spezialgerät zwei Meilen vom Timmendorfer Strand entfernt, dann vor Scharbeutz und Haffkrug, jetzt nehmen sie in der Neustädter Bucht bis vor Pelzerhaken der Ostsee Meßproben ab. Weiter nördlich verringert sich die Quallendichte. Doch wird vor der Küste Ostholsteins plötzlich die Meereskunde und deren Anwendung um eine Dimension erweitert, indem die Steuermännin zur Kapitänin sagt: »Hier etwa haben wir Anfang der siebziger Jahre den Butt gefangen. Zufällig. Mit ner Nagelschere. Hat der das Maul aufgerissen! Lauter Hoffnungen und wunderhübsche Versprechungen. Wurde nichts draus. Alles nur Quallen, die schrumpfen, sobald du sie anguckst.«
Als rufe sie ihn wirklich, ruft die Steuermännin über die glatte See: »He, Butt! Du hast uns angeschissen. Nichts hat sich geändert. Immer noch sind die Herren am Drücker. Sie, nur sie haben das Sagen, wenn es auch immer schneller bergab geht. Und wir haben damals gedacht: jetzt kommt sie, die Frauensache, die kluge Herrschaft der Weiber. War ne Fehlanzeige. Oder fällt dir auch dazu was Schlaues noch ein? Na, sag was, Butt, sag was, du Großmaul!«
Zwar bleibt die See sprachlos, doch lockt der Ausbruch der Steuermännin, dieses lange nicht mehr lautgewordene Geschrei nach dem
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