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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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treffen -, doch ist man der runden Zahl wegen, die, historisch verbrieft, auch kirchlicherseits angemessen gefeiert werden soll, guter Dinge. Der Superintendent hat seine Teilnahme zugesagt.
Das alles bietet der Kulturspiegel des Dritten Programms meiner Weihnachtsratte und mir. Des Sprechers angenehme, in vielen Sendungen voll ausgereifte Stimme, die, nie frei von ironischen Nebentönen und kritischen Parenthesen, dennoch bis auf die Sekunde genau Bescheid weiß, gescheit Bescheid weiß, mehr als wir über Hameln und Hamelns Hinterund Abgründe weiß, diese mediengerechte Stimme kommt aus einer Radiokiste, die rechts vom Gehäuse der Weihnachtsratte auf meinem Werkzeuggestell Platz hat, während ich links von der Rättin sitze, doch mit geschnürter Absicht schon unterwegs nach Hameln bin.
Da wollen wir hin. Dort sollen der alten Lügengeschichte einige Wurzeln gestochen werden. Das sind wir uns schuldig. Denn soviel steht fest: vor siebenhundert Jahren und in den Jahrhunderten danach war von Ratten und einem Rattenfänger auf keinem Papier die Rede. Von einem Pfeifer nur wurde berichtet, der »am dage Joanis et Pauli« an die hundertunddreißig Kinder aus der Stadt weg in einen Berg hinein oder über alle Berge davongeführt haben soll, ohne daß eines der Kinder zurückfand.
Sind sie durchs Ostentor gezogen? Spielt die Geiselnahme nach der Schlacht bei Sedemünde in die Legende hinein? Waren es Veitstänzer, die sich in alle Winde davontanzten? Kein Dokument gibt vom Geschehen Bericht. Noch hundert Jahre später wird in der Chronik der Stadtkirche, die alles, was Hameln betraf, jede Feuersbrunst, jedes Hochwasser der Weser, der Schwarzen Pest Kommen und Gehen erinnert, nichts über den Auszug der Hämelschen Kinder berichtet. Eine faule Geschichte, die von Amts wegen verschwiegen wurde und eher mit der Vertreibung der damals lästigen Flagellanten oder mit der Abwerbung Hämelscher Jungbürger in östliche Siedlungsgebiete zu schaffen gehabt haben wird als mit eines Pfeifers trickhafter Kunst; zumal die Ratten und deren Fänger erst fünfhundert Jahre nach dem Johannesund Paulustag der fragwürdigen Mär beigemischt wurden. Worauf die Dichter nach Reimen suchten, Goethe voran.
Später fanden die Grimmbrüder den Auszug der Hämelschen Kinder in etlichen Sagen mit üblichen Rattenfängergeschichten vermengt. Und weil beide Märchensammler alles niederschrieben, was auf der Ofenbank, am Spinnrad und an warmen Augustabenden erzählt wurde, lesen wir, daß ein auffallend gekleideter junger Mann gegen versprochenen Lohn die Stadt Hameln rattenfrei machte, indem er die Ratten mit besonderer Musik in die Weser lockte, wo sie ersoffen. Weiter erfahren wir, daß der Pfeifer und Fänger, weil ihm der Bürgermeister und die Ratsherren den Lohn verweigerten, die schon in anderen Legenden gezählten Kinder aus der Stadt pfiff, auf daß sie alle, hundertunddreißig an der Zahl, auf Nimmerwiedersehen im Kalvarienberg verschwanden.
Eine moralische Geschichte, die außer Ratten wortbrüchige Bürger bestraft und verführbare Kinder obendrein.
Nicht nur Kinder. Jeder, der leichtfertig handelt, schafsköpfig hinterdreinläuft, vertrauensselig sich anvertraut, ohne Verstand gläubig ist und jedem Versprechen Glauben schenkt, gilt als vom Rattenfänger geködert, weshalb dieser schon früh politisch Figur gemacht hat. In Flugschriften und Traktaten heißt es: Er hetzt die Bauern auf, er macht die armen Leute begehrlich, er gibt den Bürgern Unruhe ein, er stellt Fragen, auf die einzig der Teufel Antwort weiß. Wer auf ihn hört, der zündelt auch, rumort im Untergrund, erhebt sich, wird aufständisch und ist ein Revoluzzer und Ketzer zugleich. So haben Rattenfänger, die sich mal nüchtern, mal farbig trugen und jedesmal anders hießen, verlorene Bauernhaufen und aufsässige Gewerke, Irrläufer und Abweichler, oft radikale Minderheiten nur, schließlich ganze Völker ins Unglück geführt; noch kürzlich das gutgläubige deutsche Volk, indem der immer gleiche Rattenfänger nicht etwa was kaum verfangen hätte »Die Ratten sind unser Unglück« rief, sondern den Juden jedes Unglück zuschob, bis ziemlich jeder Deutsche zu wissen glaubte, woher das Unglück gekommen sei, wer es mit sich gebracht und verbreitet habe, wen man deshalb zusammenpfeifen und wie Ratten vertilgen müsse.
So einfach ist das. So leicht läßt sich aus Legenden man muß sie nur ordentlich klittern eine Moral ziehen, bis sie Früchte trägt: ausgewachsene

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