Die Rättin
Wald. Er krepiert öffentlich. Zum Himmel hoch abgetötet noch aufrechte Baumleichen. Folgerichtig entleert der Knabe von vorhin über der schlafenden Prinzessin, die im nun toten Wald schlummert, das andere Wunderhorn: Müll, Giftdosen, Schrott. Als treibe es ihn, Autoabgase zu symbolisieren, furzt er der Prinzessin ins sogleich runzelnde Gesicht: so bleihaltig ist der Wind des Knaben.
Nach dem Schlußsatz und Untertitel des Sohnes »Das ist dein deutscher Wald!« wird die Tochter des Kanzlers tätig: Mit einem Messer, das sie während kurzer Nebenhandlung dem Förster gestohlen hat, schneidet sie ritschratsch alle Seile durch, mit denen die Waldkulissen hochgezogen und durch Knotenschlag gesichert sind. In Zeitlupe fallen die Kulissen in sich zusammen. Kein gemaltes Vöglein fliegt, sich rettend, davon. Kein Reh Hase Igel flüchtet. Nicht nur das Stahlrohrgerüst, der tote Wald steht unübersehbar.
Jetzt stellt die Tochter das Tonband mit den Vogelstimmen ab. Stille. Dürres Geäst knackt, bricht. Mit dem Schwindel fliegen Krähen auf. Angst geht um, unumschrieben: der Tod. Zwischen den entsetzten Märchendarstellern retten sich Dornröschen und ihr wachküssender Prinz in Gelächter. Für einen Untertitel passend, sagt Wilhelm zu Jacob Grimm: »Mein Gott! So kommt die Wahrheit ans Licht.«
Während ich die anhaltende Schrecksekunde nutze und mir die ins späte zwanzigste Jahrhundert fortgeschriebenen Brüder Grimm als nur gelegentlich wankende, so kluge wie sensible, heimlich jedoch an mangelnder Radikalität leidende, kurzum: liberale Grimmbrüder vorstelle, die beide nun die Hände ringen, rafft sich unser Stummfilm zu neuer Handlung auf: Sohn und Tochter des Kanzlers reißen den kostümierten Märchenfiguren Hänsel und Gretel die Mütze, das Häubchen ab, werfen ihren Walkman weg, schneiden Vater und Mutter und obendrein dem Fernsehen Grimassen und laufen aus freien Stücken, der Grimmschen Märchenfassung spottend, als Hänsel und Gretel in den Wald.
Die Gattin des Kanzlers ruft: »Hans! Margarete! Kommt bitte sofort zurück!«
Die Medien sind beglückt. Journalisten diktieren ihren Geräten knallharte Stichworte. Aus der Hüfte schießen Pressefotografen in Salven Fluchtbilder. Schonungslos zeichnet das Fernsehen auf. Die Flucht der Kanzlerkinder beginnt Geschichte zu machen. Der Kanzler jedoch hindert die Polizisten, wie gelernt die Verfolgung der Flüchtlinge aufzunehmen. Er ruft: »Zwei Aussteiger mehr! Undankbare! Wir werden das zu verschmerzen wissen.« Er rettet sich in eine Haltung, die er für würdevoll hält, kann aber nicht verhindern, daß sein Gesicht von einem Grinsen heimgesucht wird, das der Analyse bedürfte. Während man noch beide Abhauer und Aussteiger undankbar fern zwischen toten Bäumen ahnt, könnte Wilhelm leise zu Jacob Grimm sagen: »Du siehst, lieber Bruder, die alten Märchen hören nicht auf.«
Um der anhaltenden Katastrophenstimmung zu begegnen, sammelt sich hastig der Männerchor und singt, vom Chorleiter mitgerissen, ein munteres Lied, das aber tonlos bleibt, wenngleich es »Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion« heißen könnte. Jetzt regnet es auch noch sauer. Der Kanzler spürt ein Gelüst nach tröstender Süßigkeit. Nichts sieht man mehr von den entlaufenen Kindern.
Meine Weihnachtsratte und ich hören im Dritten Programm nicht nur, daß dieses Jahr nach chinesischer Rechnung als Jahr der Ratte, des sammelndes Fleißes und der gesteigerten Produktion im Kalender steht, es macht auch die Stadt an der Weser in einer von Flötenstückchen gesäumten Kultursendung auf das Jubiläum ihrer Legende aufmerksam. Die Rede eines böhmischen Dichters, die Uraufführung eines Puppenspiels, wissenschaftliche Vorträge zum Thema, der Verkauf der Rattenfänger-Sonderbriefmarke mit Sonderstempel und Festumzüge sind vorgesehen, in denen der heutigen Bürger Kinder in mittelalterlicher Tracht einem stilgetreuen Rattenfänger folgen sollen. Außer der Ausstellung mit Bildern einschlägiger Motive steht der Verkauf einer Riesen-Rattenfängertorte vor dem Stiftsherrenhaus auf dem Programm. Die städtische Fremdenwerbung frohlockt: Man erwartet ein Plus an Touristen, solche sogar aus Übersee, die sich als texanischer Rattenfänger-FanClub, als japanische »Children of Hameln« angemeldet haben. Zwar fürchten die politischen Sprecher der Stadt unliebsamen Zuzug man werde, falls aus den Großstädten sogenannte Punks oder Punker mit ihrem Getier einfallen sollten, geeignete Maßnahmen
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