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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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ein wenig dicklich geraten; doch könnten sie auch mager bis spillerig sein, falls unser Herr Matzerath diesen Typ wünscht. Eine dem Försterrock nachempfundene Kleidung eint die Familie: Loden, Bundhosen, Schnürstiefel, Hirschhornknöpfe.) Während sich seitab ein Männerchor und kostümierte Darsteller vor die gemalte Waldkulisse schieben, versammeln sich die Minister und Experten zwanglos um den Kanzler; unter ihnen der für Wald, Flüsse, Seen und Luft zuständige Minister Jacob Grimm, dem als Staatssekretär sein Bruder Wilhelm zur Seite steht.
Es gefällt uns, der Handlung und der volkstümlichen Bezüge wegen diese historische Anleihe zu machen und den nach gegenwärtiger Mode gekleideten Jacob Grimm zu seinem Bruder sagen zu lassen: »Da hat der Maler Schwind wieder mal gute Arbeit geleistet.« Worauf wir Wilhelm Grimm traurig lächeln sehen. Beide Brüder verstehen es, ihrem Bemühen, dem zeitlos tapferen »dennoch« so anhaltend Ausdruck zu geben, als gefalle ihnen ihr wiederholtes Scheitern. Zwei aufrechte Männer, die notfalls bereit sind, den Hut zu nehmen; und dennoch zwei Märchenonkel, die das Zwinkern gelernt haben: sie wissen seit altersher, wie es hinter den Kulissen aussieht, mucken aber nicht auf, denn immerfort wollen sie Schlimmeres verhüten.
Seitab suchen Polizisten den Sängerchor nach Waffen ab. Harmlos befunden, versammeln sich die Sänger auf einem Podest. Vom Chorleiter gestisch gedämpft oder zu größerer Lautstärke ermuntert, singen die Sänger das Lied: »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben...« Der Kanzler ist versucht, mitzusingen.
Nachdem auch sie sicherheitsdienstlich behandelt sind, treten jetzt, auf ein Zeichen der Brüder Grimm, die wir fortan die Grimmbrüder nennen, alle Kostümträger als Märchendarsteller auf. Sie sind gediegen geschmackvoll nach altdeutscher Art gekleidet. Schneewittchen gesittet zwischen den Sieben Zwergen. Neben Dornröschen mit Spindel der wachküssende Prinz. Unter der Langhaarperücke, das kann nur Rapunzel sein. Hänsel und Gretel verbeugen sich, knicksen und überreichen dem Kanzler und seiner Gattin sinnreiche Geschenke: einen Tannensetzling, einen Korb voller Eicheln und Buchekkern, ein altglänzendes Waldhorn. Offenen und gespitzten Mundes singt der Männerchor »Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald...« Auch die Polizisten erfreuen sich an den zuvor harmlos befundenen Chorsängern.
Genug der Darbietungen: Jetzt spricht, mehr den anwesenden Medien als seinen Ministern zugewendet, der Kanzler, indem er geübt vom Blatt liest. In Bildern beschwört er eine heile Welt, die von Ungemach bedroht ist. »So werden wir abermals vom Schicksal geprüft!« ruft er, als wäre das deutsche Volk von altersher auf Schicksalsprüfungen abonniert. Da wir uns einen Film wünschen, der sich als Stummfilm nur gelegentlich mit Untertiteln hilft, sieht man den in der Kanzlerrede beschworenen Wald heil rauschen. In Einblendungen tut sich der Waldesdom auf. Rehe äsen. Der Hirsch schreckt auf. Aus allen Wipfeln fallen Zitate. Und wie gerufen leert ein Knabe über einer auf Moos gebetteten Prinzessin des Knaben Wunderhorn aus: Blüten, Libellen und Schmetterlinge... Weil die herbeigeredete Stimmung sich nicht mehr steigern läßt und etwas geschehen muß, springen nun, nach dem Schlußsatz des Kanzlers, »So lebe fort, du deutscher Wald!«, der für den Stummfilm einen beispielhaft knappen Untertitel hergibt, des Kanzlers Sohn und Tochter ins Bild.
Dicklich oder spillerig, sie bewerfen den Vater mit den geschenkten Eicheln und Bucheckern. Die Tochter zerbeult das altglänzende Waldhorn. Der Sohn zerbricht den Tannensetzling, holt sich den Walkman aus dem Ohr, springt aufs Podest und hält, indem er die erschrockenen Minister und Experten, alle verschreckten Märchendarsteller und Chorsänger, die wieder verunsicherten Polizisten und Sicherheitsbeamten in Zivil, jeden mitschreibenden Journalisten, die ungerührt draufhaltenden Kameramänner, alle und auch die Grimmbrüder zum Publikum macht, eine Gegenrede.
»Du redest wieder mal Scheiße!« ruft er dem Kanzler als Vater zu und beschwört Wirklichkeit. Man sieht Autohalden und Autoschlangen, Fabrikschornsteine in Betrieb, heißhungrige Betonmischmaschinen. Es wird abgeholzt, planiert, betoniert. Es fällt der berüchtigte saure Regen. Während Baulöwen und Industriebosse an langen Tischen das Sagen und bei Vieraugengesprächen genügend Tausenderscheine locker in bar haben, stirbt der

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