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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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auf unseren Herrn Matzerath: Er soll Ja sagen und meinen Film über den sterbenden Wald produzieren. Sie nahm mir den Ton weg und fistelte: Die allgemeine Stimmung des Menschengeschlechts, seine überbetonte, durch nichts begründete Hoffnung auf Frieden, diese von Hoffnung lebende, sich selbst verzehrende Hoffnung, dieses geschäftige Hoffnungmachen bei gleichzeitigem Leerlauf des menschlichen Getriebes, ihre trostlose Hofferei alarmierte uns.
Sie stellten sich mit Sachzwängen zu. Als wäre ihnen Zeit endlos gegeben, vertagten sie sich. Ihre Staatsmänner mochten das komisch finden, jedenfalls grinsten sie bis zum Schluß. Ach, ihr Gerede! Wenn das Humane zuvor zu weittragenden, wenngleich oft wunderlichen Ideen fähig gewesen war, plapperte es gegen Ultimo nur noch abgelegte Ideen nach, uralte Schrullen darunter: Weltraumschiffe, gebaut und bevölkert nach dem Archeund Ausleseprinzip. Offensichtlich, der Mensch gab sich auf. Er, dessen Kopf sich all das ausgedacht hatte; er, dessen Gedanken bis dahin Gestalt angenommen hatten; er, bisher stolz auf seinen Kopf und dessen Siege über Finsternis und Aberglaube, Dunkelmänner und Hexenwahn; er, dessen Geist zahllose Bücher gewichtig gemacht hatte er wollte fortan auf seinen Kopf verzichten und nur noch Gefühlen folgen, obgleich im Humanen mehr noch als der Instinkt das Gefühl unterentwickelt war.
Kurzum, sagte die Rättin, von der mir träumt: Immer mehr Menschen setzten auf ein Leben ohne Vernunft. Wie Seher und Hohepriester redeten Dichter daher. Jedes ungelöste Problem nannten sie Mythos. Schließlich wandelten sich sogar die seit Jahren üblichen, anfangs mit Wörtern und Beweisen noch klugen Friedenskundgebungen zu religiösen Aufläufen. Leider liefen auch unsere Punks mit, die wir liebgewonnen, die uns liebgewonnen hatten. Unser Rattengedächtnis erinnerte mittelalterliche Flagellantenzüge, die angstgetrieben das christliche Abendland heimgesucht, geißelwütige Exzesse, Pogrome ausgelöst und vor nichts haltgemacht hatten, weil damals die Pest umging, Menschengeißel genannt. Worauf Schuldige gesucht und gefunden wurden: wir und die Juden sollen die Seuche eingeschleppt und verbreitet haben. Von Venedig oder Genua aus. Alte Geschichten, gewiß; und doch immerneue ...
Jedenfalls sahen wir das Flagellantentum gegen Schluß der Humangeschichte abermals aufleben, wenngleich nicht gegen Juden und uns gerichtet. Vielmehr kam es nach Umzügen und Aufläufen zu vereinzelten, dann kollektiven Selbstverbrennungen: Erstmals in Amsterdam, dann in Stuttgart, darauf gleichzeitig in Dresden, Stockholm und Zürich, schließlich tagtäglich in europäischen Großund Kleinstädten, in Fußballstadien und Messehallen, auf Kirchentagen und Campingplätzen; worauf diese Mode wenn man so sagen darf in anderen Erdteilen Zulauf fand: zuerst in Atlanta und Washington, dann in Tokio und Kyoto, natürlich in Hiroshima. Am Ende, als kollektive Selbstverbrennungen sogar aus unterentwickelten Ländern gemeldet wurden, blieb auch die Sowjetunion nicht gefeit: Von Kiew sprang das heillose und nichts klärende Feuer auf Moskau und Leningrad über. Wo immer Vernunft aussetzte es sollten noch Rom und Tschenstochau erwähnt werden -, der Vorgang blieb sich gleich: Junge Menschen gruppierten sich zum enggefügten Block. Und in der Mitte solch eines betenden, singenden, den Frieden in jedes Gebet, in jede Liedzeile zwingenden Menschenblocks vorm Kölner Domportal sollen es über fünfhundert gewesen sein wurde dann, nach plötzlichem Schweigen, der Mahnblitz gezündet; viele offen reihum gereichte Kanister Benzin stellten ihn her. Davon gab es genug bis zum Schluß.
Ach das Humane! Oh, dieses Menschengeschlecht! Selbst im Zustand verzweifelter Wirrnis hatten sie alles gut organisiert. Ordner fügten die zum Selbstopfer bereiten Blöcke. Der versammelten Kopfzahl entsprechend, standen Ambulanzwagen bereit. Auffallend viele Mütter mit Kleinkindern unter den Opfern. Lehrer mit ihren Schülern. Priester und Pfarrer mit Katecheten und Konfirmanden. Großbetriebe verloren in Neckarsulm und Wolfsburg ihre Lehrlinge samt Ausbildern. In etlichen Garnisonsstädten haben Rekruten den Mahnblitz während der Vereidigung gezündet. Im späteren Verlauf dieser vorweggenommenen Selbstvernichtung gaben die Presse, der Rundfunk und das Fernsehen die täglichen Verlustzahlen vernünftigerweise nicht mehr bekannt.
Und ich sah, was die Rättin aufgezählt hatte, sah Mahnblitze vor jäh erhellten Stadtkulissen,

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