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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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gefährdete Populationen zu verlagern: Rattenvölker aus dem Ruhrgebiet; eine Region übrigens, die vormals von Einwanderern aus Polen geprägt worden ist.
Das sagte die Rättin, von der mir träumt, zu ihrem jüngsten Wurf, den sie mir stolz als erste Aufzucht ohne Übergangsschäden vorwies. Dann mußte sie den Nestratten erklärend auf Fragen antworten: Was sind Polen? Was sind Deutsche genau? Wie verschieden sahen die aus? Wo sind die alle geblieben? Gab es vor dem Knall auch deutsche und polnische Ratten? Und warum sind die Menschen weg und wir Ratten immer noch da?
Mit Geduld gab die Rättin, solange mein Traum anhielt, Antwort auf alle Fragen ihres neunschwänzigen Wurfes. Sie übertrug die zum Mangel führende Planwirtschaft auf den Alltag der Ratten. Man stelle sich vor: Nicht jede Sippe dürfe überschaubar für sich sorgen, vielmehr werde an weitentlegener Stelle, allen Rattensippen übergeordnet, jegliche Nahrung gesammelt, damit sie neuverteilt werden könne. Transportverluste wären die Folge, Schlamperei, Futterneid. Ausgesprochene Mangelwirtschaft habe deshalb in Polen langlebig geherrscht. Dabei hätte alles reichlich auf Lager gelegen: grobkörniges Brot, Butter und Schmalz, in Büchsen gewogenes Schweinefleisch, besonders schmackhaft: polnische Wurst. Ein Jammer, dieser humane Pfusch!
Noch nachträglich erregt rief die Rättin: Selbst heute darf, aus Angst vor Empfindlichkeit, nur halblaut gesagt werden, daß jene aus deutscher Menschensicht polnisch anmutende Wirtschaft auch der polnischen Ratte eingefleischt ist. Weshalb es zwischen Polen und Deutschen, obgleich sie nicht merklich verschieden aussahen, immer wieder zu Spannungen, sogar zu Feindseligkeiten kommen mußte; desgleichen zwischen deutschen und polnischen Ratten: dieser Haß, soviel verschmähte Liebe . . .
Doch das, sagte die Rättin, ist Humangeschichte und liegt weit zurück. Sie erzählte ihren Nestratten von Ordensrittern und wie fett man sich auf dem Schlachtfeld von Tannenberg gemacht habe. Sie berichtete von den Teilungen Polens, als nicht nur Russen und Österreicher, sondern die Preußen auch jeder sein Stück, bis Napoleon, worauf vor allem Bismarck, doch abermals wurde mit Doppeladler als Staat, bis ein gewisser Hitler und ein gewisser Stalin ganz Polen auffraßen, worauf es sich aber dennoch nicht verloren gab, sondern wie es im Lied hieß, aufs Neue...
Hier brach sie ab Das führt zu nichts! und sagte zu ihrem neunschwänzigen Wurf: Es gab ja nicht nur Polen und Deutsche. Ähnlich mörderisch ging es in Humanzeiten zwischen Serben und Kroaten, Engländern und Iren, Türken und Kurden, Schwarzen und Schwarzen, Gelben und Gelben, Christen und Juden, Juden und Arabern, Christen und Christen, Indianern und Eskimos zu. Sie haben sich abgestochen und niedergemäht, ausgehungert, vertilgt. All das keimte in ihren Köpfen zuerst. Und weil sich der Mensch sein Ende ausgedacht, dann wie geplant so vollzogen hat, gibt es das Humane nicht mehr. Vielleicht wollten sich die Menschen nur beweisen, daß sie zum Letzten nicht in Gedanken nur fähig sind. Wir geben zu: Ein gelungener Beweis! Es kann aber auch sein, daß die Humanen jene andere Fähigkeit, die uns Ratten seit jeher eigen ist, den Willen zum Leben, haben verkümmern lassen. Kurzum, es schmeckte ihnen nicht mehr. Sie gaben sich auf und waren, trotz Haß und Streit, einig beim Schlußmachen. Do Minscher nifteren Ultemosch! rief sie.
Ich schwieg nach solch endgültiger Rede, und auch ihr Wurf stellte keine Fragen mehr, sondern lebte, indem er das biblische Gebot Mehret euch! übte. Viel Unruhe und immer anders geordnete Schwänze. Wie rasch aus Nestratten Jungratten wurden, die abermals Nestratten warfen. Doch weil sie so selbstvergessen einzig auf ihre Vermehrung bedacht waren, gelang es meinem Traum, andere Bilder zu suchen: nur eine kurze Strecke weit war er den laufenden Kindern im toten Wald hinterdrein, dann wühlte er die quallengesättigte See, rührte Pausenhofängste, fleischliche Mühsal auf, bis er sich endlich den Maler Malskat einfing, der aber nicht hoch im Gerüst mit schnellem Pinsel gotische Fresken malte, sondern mit unserem Herrn Matzerath in Lübecks Café Niederegger Häppchen für Häppchen Marzipantörtchen futterte. In meinem Traum verstanden die beiden sich gut. Sie lachten, tauschten Erfahrungen aus und verplauderten ihre Zeitweil während der fünfziger Jahre.
    Es war einmal ein Land, das hieß Deutsch.
Schön war es, gehügelt und flach
und wußte

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