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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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die Optik der Kamera den Wald wie zum letzten Mal sieht. Wer will da noch reden. Sterbend sprechen die Wälder für sich. Und nur die Handlung, die immer weiter will, drängt, springen möchte, Ausrufe, Wehklagen, Hinweise braucht, verlangt nach Untertiteln, die sich kurzfassen müssen: Ach wie gut, daß niemand weiß. Spieglein Spieglein an der Wand. Doch hinter den Sieben Bergen. Warum hast du so große Ohren? Laß mir dein Haar herunter. Mein Kind, mein Reh! Königstochter jüngste. Blut ist im Schuh. Der Wind, der Wind, das himmlische Kind...
Denn Hänsel und Gretel laufen zwar immer noch stumm durch den toten Wald, aber irgendwann, nein, bald wird der Wald lebendig werden und den Kindern mit Zeichen helfen, auf daß sie ankommen und mit einem Untertitel begrüßt werden: »Hallo, da seid ihr ja endlich!«
Unser Herr Matzerath, der gerne spricht und sich schon immer wortsüchtig erklärt hat, sieht mittlerweile ein, daß es ein Stummfilm werden muß, den er wer sonst? produzieren soll. Er rührt im Kaffeetäßchen, spreizt den kleinen Finger dabei und schweigt.
Soll ich jetzt schon Druckmittel androhen, damit er einwilligt, als Produzent endlich ja sagt? Er sollte wissen: solange sein Wort fehlt, verzögert sich die geplante Reise.
Um abzulenken zeigt er das Visum vor.
Ich deute auf den Produktionsvertrag: »Hier, genau hier fehlt. Ihre Unterschrift, bitte.«
Er bedauert, daß für Videokassetten der Markt zur Zeit verstopft ist.
Ich will aber keine Kassette: »Einen Stummfilm als Kinofilm will ich, mit Untertiteln.«
Er sagt: »Sobald ich aus Polen gesund zurück bin vielleicht...« Ich sage: »Es könnte mir im Nebensatz einfallen, Ihr Visum einfach verfallen zu lassen.«
»Erpressung!« nennt er das, »Autorenhochmut!« »Na gut«, sagt er, »ohnehin wird der Wald nur noch im Film zu retten sein.«
In Eile sage ich: »Darf man Ihnen morgen schon Gute Reise wünschen?«
Während unser Herr Matzerath für uns beide den Rehrücken mit allem Drum und Dran als Arbeitsessen bezahlt und reichlich Trinkgeld für den Kellner bemißt, dann in die vorgesehene Rubrik den Filmtitel »Grimms Wälder« einträgt, schließlich in Sütterlinschrift als »Oskar Matzerath-Bronski« unterschreibt, sagt er nach längerem Umschweif, der seine Reise und die politische Lage in Polen betrifft: »Ich hätte mich lieber für Malskat den Maler entschieden. Seine Gotik gefällt mir.«
    Hand in Hand inmitten Leichenstarre: Sie laufen im toten Wald an Müllkippen, Giftdeponien und militärischen Sperrbezirken vorbei. (Als Vater und Mutter erzählen der Kanzler und seine Gattin inzwischen der Presse, wie untröstlich sie sind. An Litfaßsäulen, auf Fernsehschirmen, überall draußen im Land wird nach den entlaufenen Kanzlerkindern gefahndet, die Johannes und Margarete heißen.)
Jetzt nicht mehr Hand in Hand: Hänsel und Gretel laufen, als könnten sie anders nicht. Kaum angestrengt und kein bißchen verzweifelt. Mal Hänsel, dann wieder Gretel voran. Während sie laufen, wird der tote Wald, der wie das Erzgebirge auf gegenwärtigen Fotos aussieht, zuerst zögernd, dann entschlossen, schließlich heftig grün, immer dichter grün wie im Bilderbuch, bis er zum unwegsam grünen Märchenwald wird. Der Häher, die Eule fliegen auf. Knarrende Bäume schneiden Fratzengesichter. Zusehends schießen Pilze aus Moosgründen. Unter Wurzeln liegen, als seien sie Teil der Knollen und Strünke, blinzelnde Erdmännchen verborgen. Aus einem betriebsamen Ameisenhaufen winkt eine langfingrige Hand und zeigt den Kindern die Richtung. Das Einhorn bricht aus dem Niederholz, hat ein feuriges und ein trauriges Auge, trabt dann, als müsse es anderswo einmalig sein, zwischen Buchen davon.
Sie fürchten sich nur wenig. »Richtige Monster«, ruft Gretel, »gibt es hier sowieso nicht!« Beide sehen den Wald, als müßten sie zum ersten Mal staunen. Sie laufen nicht mehr, sondern suchen und tasten. Zwischen dicken Baumstämmen, kaum zu zweit zu umfassen, verlieren, finden sie einander. Über ihnen schließt sich, von nur wenigen Sonnenlöchern durchbrochen, das Blätterdach. Beide schwimmen in brusthohem Farn. Schließlich führt eine Waldtaube, die einen goldenen Faden nach sich zieht, Hänsel und Gretel durch den Wald, bis er sich öffnet.
Inmitten einer Lichtung steht neben einem dunklen Teich, auf dem sieben Schwäne treiben, ein Holzhaus mit Obergeschoß, das von Schindeln gedeckt ist und wie sich die Kinder ihm nähern mit der gemalten Inschrift »Zum

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