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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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geblieben. Neben ihrer zwar wirkungslosen, aber weithin geschätzten Regierungstätigkeit sammeln sie soziale Daten und Kulturzeugnisse ausländischer Arbeiter, außerdem Neuwortbildungen, wie sie vormals Märchen, Sagen und Wörter von A bis Z gesammelt haben, bis Jacob, als er dem Buchstaben F sich näherte, unter Zetteln eingeschneit war.
Überdies publizieren sie. Wie Wilhelm Grimm mit einem Aufsatz über »Die Rolle der türkischen Frauen im Alltag der Bundesrepublik« sogar bei Feministinnen Zustimmung findet, wird ein Buch des gegenwärtigen Jacob Grimm unter dem Titel »Schlumpfdeutsch« weithin beachtet, weil es dem Autor gelungen ist, am Beispiel der Kunststoffsprache massenhaft verbreiteter Schlümpfe, den allgemeinen Sprachverfall, »die Verkrautung einst blühender Wortfelder« und den Niedergang des Schriftdeutsch zu belegen. Viel Zustimmung erfuhren die Grimmbrüder landauf landab, als sie vor Jahren, gemeinsam mit anderen Gelehrten, gegen eine Verfassungsänderung protestierten: wie immer sprachmächtig, doch ohne Gehör zu finden; das liege, sagte man, in des geteilten Landes gemeinsamer Tradition begründet.
Weil aber die Grimmbrüder in meinem Film, der vom sterbenden Wald handeln wird, einer linearen Märchenhandlung unterworfen sind, dürfen ihre Nebentätigkeiten und Skrupel nur wie Fußnoten bemerkenswert sein. Zum Beispiel finden sich in den Arbeitszimmern der Brüder, die mit offener Tür aneinander grenzen, Belege ihres Sammlerfleißes: Wilhelms kleineres Zimmer schmückt, zwischen Büchergestellen voller Soziologie, ein Wandbehang, der aus dreißig oder mehr vielfarbigen Kopftüchern türkischer Gastarbeiterfrauen geknüpft wurde; in Jacobs Ministerzimmer fällt neben dem gerahmten Portrait des preußischen Gelehrten Savigny eine Vitrine auf, deren Etagen mit lustigen, zu Gruppen arrangierten Schlümpfen vollgestellt sind. Als Forscher sehen die Grimmbrüder sich ironisch.
Und was unser Herr Matzerath noch wissen will, während ich einen Rest Rote Grütze mit restlicher Vanillesoße verrühre; Ja, sie musizieren beide, fordern erweiterten musischen Unterricht und treten für qualitativ orientierte Filmförderung ein Grundsätzlich sind sie nicht gegen neue Medien, warnen aber vor einem unkontrollierten Medienverbund.
Wir heben die Gläser, trinken einander zu. Neinnein, die Grimmbrüder zeigen sich nicht als Stubengelehrte. Sie sind geschieden und wechselnden Damen geneigt. Wir sehen sie sportlich gekleidet und nicht nur zu zweit fotogen. Sie tragen zu Tweedjacken passend gemusterte Fliegen. Sogar ihren Urlaub verbringen sie im Spessart, in den Vogesen, wo immer es waldet, gemeinsam. Man könnte den Film einfach »Der Wald« oder anspruchsvoller »Grimms Wälder« nennen; nur sollte er gedreht werden, solange Wälder noch anschaulich sind.
»Doch warum«, sagt unser Herr Matzerath beim Kaffee, »soll es ein Stummfilm werden mit aller Gewalt?«
Weil alles gesagt ist. Weil nur noch Abschied bleibt. Zuerst von Tannen, Fichten, Föhren und Kiefern, dann von den glatten Buchen, den wenigen Eichenwäldern, vom Bergahorn, von der Esche, den Birken, Erlen, den ohnehin kränkelnden Ulmen, von lichten Waldrändern, die unter Niederholz pilzreich sind. Wo soll der Farn bleiben, wenn ihm das Laubdach fehlt. Wohin fliehen, wohin sich verlaufen?
Abschied vom Kreuzweg im tiefen Wald. Vom Ameisenberg, der Staunen lehrte, nehmen wir Abschied, ohne zu wissen, wovon. Von den vielen umzäunten Schonungen, die Gewinn und Weihnachtsbäume versprachen, vom hohlen Baum, der Platz bot für alle Ängste, Abschied vom rinnenden Harz, das den Käfer für immer einschloß. Abschied von Wurzeln gekrümmt, darüber zu stolpern und endlich ein Vierblatt, das Glück, zu finden. Abschied vom Fliegenpilz, der besondere Träume macht, vom Hallimasch, der auf Baumstümpfen siedelt, von der schmackhaften Totentrompete, die spät ihre Trichter öffnet, während von weither die Stinkmorchel lärmt. Schneise, Kahlschlag, Gehege. Abschied von allen Wörtern, die aus dem Wald kommen.
Zum Schluß verabschieden wir uns von den streitenden Wegweisern und vom Gasthof »Zum Wilden Mann«, vom steigenden Saft und vom Grün, vom fallenden Laub und allen Briefen, die so beginnen. Gelöscht wird, was geschrieben steht über den Wald und die Wälder hinter den Wäldern. Kein Schwur in Rinden geschnitten. Keine Last Schnee, die von Tannen fällt. Nie wieder lehrt uns der Kuckuck zählen. Ohne Märchen werden wir sein.
Darum ein Stummfilm. Weil

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