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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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gehalten, wir, das Fußvolk seiner Delirien, wir, seiner Ängste Modell.
Deshalb hat sich der Mensch von uns mit Wörtern Bilder gemacht. Die Rattenpest fürchtete, den Rattenfraß verfluchte er. Wir, das Böse an sich, in den Schreckenskammern seiner hintersten Gedanken waren wir gegenwärtig. Wir, die wir alles, was ihm als Schleim oder in Stücken abging, seinen Kot, seine säuernden Reste, alles, was er erbrach, sobald ihn Elend würgte, wegräumten, ohne Umstand verputzten und ihm, dem Empfindsamen, aus dem Blick schafften, wir, seiner Kotze froh, waren ihm ekelhaft. Mehr noch als Spinnen ekelten wir ihn an. Keine Qualle, kein Wurm, keine Assel konnte ihm ekliger sein. War beiläufig von uns die Rede, würgte es ihn. Sah er uns, kam es ihm hoch. Weil nackt und von übertriebener Länge, waren ihm unsere Schwänze besonders zuwider; wir verkörperten Ekel. In Büchern sogar, die als besonderen Ausdruck menschlicher Existenz den Selbstekel feierten, las man uns zwischen Zeilen; denn wenn das Humane ihn ekelte, wozu er seit Menschengedenken Anlaß sah, waren es abermals wir, die ihm zu Namen verhalfen, sobald er den Feind, seine vielen Feinde im Visier hatte: Du Ratte! Ihr Ratten! Diese Rattenbrut!
Und weil dem Menschen so vieles möglich war, hat er, im Haß auf seinesgleichen, uns in sich gesucht, ohne langes Umherirren gefunden, kenntlich gemacht und vernichtet. Wann immer er seine Ketzer und Abartigen, die ihm Minderwertigen und wen er zum Abschaum zählte, heute den Pöbel, gestern den Adel, ausgerottet hat, war vom auszurottenden Rattengezücht die Rede.
Vielleicht war es aber auch so: Weil uns das Menschengeschlecht weder mit Strychnin noch mit Arsen beikommen konnte und ihm trotz immer neuer Vertilgungsmittel zum Schluß sollte Ultraschall wirksam werden die Eliminierung unserer Zuwächse nicht gelang wir wurden wie der Mensch mehr und mehr -, hat er seinesgleichen stellvertretend vertilgt, wie zu erwarten war: mit Erfolg.
Erst jetzt, sagte die Rättin, von der mir träumt, beginnen nun wir, uns Bilder von ihm zu machen, ihn zu suchen und auch zu finden, den in uns Ratten verborgenen Menschen. Immer schöner wird er und will gespiegelt werden: sein Ebenmaß, sein aufrechter Gang, den wir üben, immerfort üben. Als unzulänglich begreifen wir uns, zu keinem Gefühl, zu keiner Laune fähig. Ach, könnten wir schamrot werden, wie er es wurde, aus nichtigem Anlaß zumeist. Ach, könnte uns eine seiner Ideen trächtig, begabt zur Kopfgeburt machen. Nein, wir Ratten nehmen nicht Abschied von ihm, wie er von seiner Herrlichkeit Abschied genommen hat. Nein, sagte die Rättin, bevor sie verging, wir geben den Menschen nicht auf.
    Ein Arbeitsessen zu zweit. Rehrücken zu Pfifferlingen und Preiselbeeren ordnet er an. Mir gegenüber, auf zwei Kissen gesetzt, möchte unser Herr Matzerath wissen, wie ich mir im Stummfilm über den sterbenden Wald, der einerseits anklagen soll, damit die Wälder in letzter Stunde gerettet werden, der andererseits Abschied nehmen will, weil es zu spät, viel zu spät ist, die historischen Brüder Grimm in gegenwärtigen Rollen vorstelle.
Er sagt: »Ohne Klärung dieser Frage reise ich ungern nach Polen, zumal sich ja auch dort vieles herkömmlich in katholischen Wolken verliert.«
Bis zum Dessert Rote Grütze mit Vanillesoße halten meine Erklärungen an: Wenn Jacob Sonderminister für Umweltschutz ist, wird Wilhelm, als sein Staatssekretär, für zunehmende Waldschäden zuständig sein. Auf jeden Fall sehen sich beide dem Wald verpflichtet. Sie wissen über Toxizität und Immissionen Bescheid. Mit Bundesmitteln fördern sie die Ozonforschung. Beide haben frühzeitig in Thesen, die damals belächelt wurden, die Stabilität des Ökosystems bei ungehemmten Zuwächsen bezweifelt. Ihre Kritik an der Energiewirtschaft ist zitierbar, doch folgenlos geblieben. Ihr Katalog unumgänglicher Maßnahmen findet kaum Widerspruch und dennoch keine Mehrheit im Parlament. Wiederholt haben sie ihren Rücktritt angeboten, sind aber immer noch im Amt. Man sagt: Die Grimmbrüder sind zu liberal. Tolerant lassen sie jeden Minister stillschweigend ausreden, während sie rüde unterbrochen, durch Zwischenrufe irritiert, von allen anderen Ministern als weltfremde Spinner verlacht und allenfalls wie Käuze die muß es auch geben! respektiert werden. Man leistet sich die beiden. Kommt Staatsbesuch, zeigt der Kanzler sie vor.
Und doch: bei aller Gegenwärtigkeit sind sich die Brüder Grimm als Grimmbrüder treu

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