Die Rättin
Knusperhäuschen« als Waldgasthof kenntlich wird. Vor seitlichen Stallgebäuden schaut im Gehege ein Reh auf. Nur kurz unterbricht hinter Gitterstäben der Wolf sein Hin und Her.
Zögernd nähern sich Hänsel und Gretel einem gemauerten Ziehbrunnen, neben dem in langem Kleid eine Dame schläft. Auf der Stirn der Dame sitzt ein Frosch und atmet, als pumpe er Luft. Der Blick, den sich Hänsel und Gretel geben, verrät, daß sie diese Geschichte ungefähr kennen. (Deshalb sollte, während der Frosch auf der Stirn atmet, kein Untertitel deutlicher werden.)
Aus offenen Fenstern wehen weiße Gardinen. Vor dem Holzhaus steht ein altmodischer Blechautomat, dessen Bemalung in Ornamenten Pfefferkuchen und anderes Knuspergebäck imitiert. Hänsel sucht nach Münzen in seiner Hosentasche, findet aber weder Kleingeld noch einen Einwerfschlitz, nur die schnörkelige Aufschrift in Fraktur: »Bitte, Kinder, bedient euch!«
Zuerst zieht Gretel ein Schublädchen, in dem eine Tüte Haselnußkerne liegt. Dann zieht Hänsel ein anderes Lädchen und wird von einem Stück Honigwabe überrascht. Hungrig vom Laufen durch den erst toten, dann heilen Wald, futtern beide die Tüten leer.
Während sie noch knabbern und in einem dritten Tütchen Bucheckern finden, erhebt sich hinter blühenden Hagebuttenbüschen eine Frau aus ihrem Liegestuhl, in dem sie über der Zeitung eingeschlafen sein mochte. Die Zeitung heißt »Der Waldbote« und wurde zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, kurz vor der Schlacht bei Jena und Auerstedt datiert. Die weder junge noch alte Frau ist häßlich und schön zugleich. Sie trägt Lockenwickler im Haar und eine Kette um den Hals, an der sich luftgetrocknete Ohren reihen. Wie sie den großgeblümten Morgenrock über dem Büstenhalter zuknöpft, sieht Hänsel enorme Titten, größer als jene, die ihm gelegentlich träumen. Gretel jedoch erkennt die Hexe aus dem besagten Märchen. (Falls unser Herr Matzerath wissen will, wie schön die Hexe häßlich ist, soll sie ihm, weil unser Stummfilm ein farbiger Stummfilm sein soll, ausgemalt werden: sie ist nicht rothaarig, schielt aber leicht aus bernsteinfarbenen Augen.) Gar nicht erstaunt sagt sie ihren Text für den Untertitel: »Na, Kinder! Da seid ihr ja endlich.«
Wie sie näherkommt, Hänsel am Ohrläppchen zupft, ist er nicht nur den Traumtitten, sondern auch ihrem Kettenschmuck, den vielen luftgetrockneten Ohren nahe. Plötzlich, als möchte sie keine abwegigen Gedanken aufkommen lassen, bewegt die Hexe rasch und immer schneller eine hölzerne Rätsche, wie sie früher zum Geisteraustreiben benutzt wurde. (Geräusche dieser Art, desgleichen Vogelgezwitscher und andere Naturlaute läßt unser Stummfilm zu.)
Das lärmende Schnarren der Rätsche hat Folgen. Nacheinander verlassen alle Gäste der Pension das Knusperhäuschen: Ein mehr dürres als dünnes Schneewittchen wird von der Bösen Stiefmutter, einer im Reisekostüm stattlichen Erscheinung, gestützt; Dornröschen reibt sich schlaftrunken die Augen und muß vom Prinzen, der, einem angestellten Pfleger gleich, die Schlafsüchtige begleitet, wieder und wieder wachgeküßt werden; Rotkäppchen, kenntlich durch eine Baskenmütze, zu der es gleich grelle Stiefel trägt, führt die schwerhörige Großmutter mit sich; in eine Latzhose gekleidet, in deren Brusttasche Kombizange und Zollstock praktische Ausweise sind, tritt als Hausmeister Rübezahl auf; aus einem Fenster des Obergeschosses läßt Rapunzel, auf daß man sie gleich beim Namen weiß, zwischen wehenden Gardinen ihr Haar wehen; in schwarzem Sammet das traurigste aller händchenhaltenden Paare: Jorinde und Joringel.
Alle Pensionsgäste sind in Schönheit gealtert. Sie freuen sich über die lange erwartete Ankunft von Hänsel und Gretel. Keine Frage nach dem Woher. Die Böse Stiefmutter sagt: »Bei uns dürft ihr euch zu Hause fühlen.« Nur Rotkäppchen gibt sich schnippisch: »Ich habe mir Hänsel und Gretel immer als proletarische Kinder, nicht als wohlstandsgeschädigte Aussteiger vorgestellt.« Noch einmal bedient die Hexe die Rätsche. Jetzt kommt mit blutverkrusteten Armstümpfen ein Mädchen, das seine abgehackten Hände an einer Schnur über den Rücken gehängt trägt. (Sollte unser Herr Matzerath gegen diesen Auftritt Einwände vorbringen »Solche Grausamkeiten sind keinem Publikum zuzumuten!« werde ich sie mit dem Ruf »Zensur!« entkräften und ihn an seine Kindheit, diesen Kreuzweg ausgesuchter Bestialitäten erinnern. Zudem ist »Das Mädchen ohne
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