Die Rättin
jedermann wird begreifen: es werden alle Ratten geehrt. Fünfeinhalb Milliarden sollen es gegenwärtig sein; die werden sich freuen. Und auch ich werde meiner Schreibmaschine stillvergnügt ein neues Farbband einlegen und an deinem Käfig vorbei den Drehknopf bedienen, denn das wollen meine Weihnachtsratte und ich im Dritten Programm hören. Plötzlich wird, nachdem Neues aus der Wissenchaft angesagt ist, nicht irgendein Weltraumund Satellitenquatsch gesendet, vielmehr ist ausführlich von dir die Rede, weil du freue dich! endlich den Nobelpreis bekommen hast, und zwar für Verdienste auf dem Gebiet der Gen-Forschung. Umfassend erinnert der Sprecher an deine Vorgänger, die Professoren Watson und Crick, die dazumal mehr als zwanzig Jahre ist es her für die von ihnen aufgedeckte DNSStruktur geehrt wurden und nach Stockholm reisen durften; doch dann, Rättin, würden wir mich im Dritten Programm hören, wie ich wer sonst? die Laudatio auf das verdiente Rattengeschlecht halte...
Hochverehrte Akademie! könnte ich auf schwedischem Boden beginnen und im ersten Satz dich, als Ratte an sich, auch wenn du nicht anwesend zu sein scheinst, und dann erst den anwesenden König von Schweden begrüßen. Sogleich käme ich zur Sache: Endlich Majestät! Hohe Zeit wurde es, Verdienste zu würdigen und Leistungen für die Humanmedizin, besonders aber im Bereich der Gen-Forschung und der so nachhaltig erfolgreichen Gen-Manipulation zu erkennen, die ohne die Ratte nicht denkbar gewesen wären.
Nein, meine Damen und Herren! Wir sollten es uns nicht zu leicht machen, indem wir einschränkend nur die Laborratte ehren. Das wäre falsch und unredlich zugleich. Es soll das dem Menschen so nahe Rattengeschlecht allgemein, die Ratte an sich gemeint sein. Sie, die verkannte, den Schädlingen zugerechnete; sie, der jahrhundertelang alles Übel und jede Plage angedichtet wurde; sie, die als Schimpfwort herhalten mußte, wann immer der Haß, Schaum vorm Mund, seinen Ausdruck suchte; sie, die hier Schrecken hervorrief, dort Ekel erregte und allzeit dem Aas, dem Gestank, dem Müll beigesellt war; sie, die allenfalls jungen verwirrten Menschen, die sich schreiend und grell ins Abseits gestellt haben, lieb und zutraulich ist; die Ratte soll hier gepriesen werden, weil sie ums Menschengeschlecht sich verdient gemacht hat.
Nun könnte man sagen: Gilt nicht Vergleichbares für Versuchsmäuse, Meerschweinchen, Rhesusaffen, Hunde, Katzen etcetera? Gewiß, auch diese Tiere gehörten geehrt. Ihr Dienst am Humanen ist unbestritten. Neben Ratten wurden Affen und Hunde als erste Säuger in den Weltraum geschickt. Lajka hieß, erinnern wir uns, das sowjetische Hündchen. Das Wort Versuchskaninchen ist sprichwörtlich. Auch bin ich sicher, daß die Mitglieder der schwedischen Akademie bei der Suche nach preiswürdigen Kandidaten sorgfältig erwogen haben, ob nicht der Rhesusaffe oder der Hund, wenn nicht die Maus, dann doch das Meerschweinchen geehrt werden müßte; und sicher fiel es den Herren nicht leicht, eine Entscheidung zu treffen.
Aber zu Recht hatte Vorrang die Ratte. Seit Menschengedenken gehört sie uns an. Lange vor uns war sie säugend schon da, als wäre es ihre Aufgabe gewesen, nach anderem Getier den Menschen möglich zu machen. Deshalb wurde, als Gott die Sintflut über die Erde kommen ließ und seinem Knecht Noah befahl, für alles, was kreucht und fleucht, eine rettende Arche zu bauen, die Ratte nicht ausgeschlossen, wie es das erste Buch Mose bezeugt.
Fortan ist sich jegliche Literatur der existierenden Ratte bewußt gewesen. Das Rattige wurde Prinzip. Man nehme den Roman Die Pest zur Hand oder Hauptmanns nach unserem Preisträger freilich im Plural benanntes Theaterstück. Es könnten über Goethe und den oft erwähnten Orwell hinaus, weitere Beispiele für den Anteil der Ratte an der Entwicklung der Weltliteratur genannt werden; wo nicht wortwörtlich oder als tapferste Ratte im Titel sogar, liest sie sich langschwänzig zwischen Zeilen. Allerdings gefiel es unseren Dichtern, den negativen Ruf der Preisträgerin zu festigen, wenn auch in unvergeßlichen Bildern und mit legendenbildender Kraft: schrecklich, die Folterszene in Orwells berühmten Roman; fragwürdig die Überbetonung der Ausnahme, das von hungrigen Ratten angeknabberte Baby. Verdienstvoll hingegen, daß uns dank der Grimmschen Sagensammlung und durch Robert Brownings epische Dichtung der Rattenfänger von Hameln bekannt wurde; ein Städtchen übrigens, dessen Bürger sich über
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