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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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die diesjährige Vergabe des Nobelpreises besonders freuen werden.
Halten wir fest: Zumeist dem menschlichen Elend, der Armut, dem Hunger, dem Grauen, der Krankheit und dem Bedürfnis nach Ekel leibeigen, ist die Ratte bisher nur zu fragwürdigen literarischen Ehren gekommen: Seuchen waren ihr aufgebürdet, nagende Not zwang sie ins Bild, ihr Ort hieß Kloake, Slum, Verlies, KZ, Unterwelt. Sie kündete Unglück an, böse Zeit und das sinkende Schiff.
Ja, sie war immer dabei, auch rückbezüglich, historisch gesehen. Nehmen wir vorerst nur die schwedische Geschichte unter Betracht; der Ort der Preisvergabe erteilt ein Vorrecht zugleich: Als von der übervölkerten Insel Gotland aus die große Völkerwanderung begann, segelten unter den Bodenbrettern Schiffsratten mit den Goten nach Süden über die Baltische See, bis Land in Sicht kam, das Weichselmündungsgebiet, worauf Geschichte ihren Verlauf nahm mit Ratten im Gefolge. Und als der große Schwedenkönig seine Bauernarmee mit mächtiger Flotte über die Ostsee führte, um an dem Glaubensstreit teilzunehmen, von dem Deutschland heimgesucht war, hatten auf allen Schiffen Ratten sich eingenistet. Natürlich waren, als die königliche Leiche rückgeführt wurde, überm Kiel abermals Ratten zugegen.
Als aber zu Beginn unseres Jahrhunderts die russische Ostseeflotte auf der Außenreede von Libau, einem baltischen Städtchen, vor Anker lag, verließen, als alle Kessel beheizt waren, die Anker gelichtet wurden und die lange Seereise nach Japan beginnen sollte, abertausend Ratten die Linienschiffe und Panzerkreuzer, Troßschiffe und Torpedoboote, denn es war der Untergang dieser Flotte im Gelben Meer angezeigt. Schwimmend retteten sich die Ratten; doch niemand begriff ihre warnende Flucht, allenfalls schrie man ihnen Verwünschungen nach. Unsere Zeitgenossen sind sie! Nicht wegzudenken ist die Ratte aus der wechselvollen Geschichte des Menschengeschlechts. Und nun, endlich, spät, doch hoffentlich nicht zu spät wird ihr Ehre zuteil. Humaner Dank spricht sich aus. Ja, wir haben von ihr gelernt. Geduldig und selbstlos half sie uns, neue Wege der Medizin zu finden. Es darf wohl gefragt werden, was wäre die Arzneimittelindustrie ohne die Ratte? Und wenn sich die Lebenserwartung des modernen Menschen, nach heutigem Durchschnitt berechnet, dem biblischen achtzigsten Jahr nähert, ist dieser Zugewinn gleichfalls ihr und ihren Opfern zu verdanken.
Sie hat leiden müssen für uns. Es fiel der Wissenschaft nicht leicht, den Protesten der Tierschützer standzuhalten; doch waren ihre Versuche kein Selbstzweck, vielmehr einträglich: nicht umsonst hat die Ratte gelitten. Nach jahrelanger Zusammenarbeit mit Gen-Forschern von Ruf, ist es ihr endlich gelungen, dem Menschen nicht nur ideell, symbolträchtig oder in poetischen Bildern zugeordnet zu sein, sondern auch des Humanen teilhaftig zu werden; es beginnt die Ratte im Menschen zu wirken, der Mensch in der Ratte. Denn nach dem Atomkern gelang es, den Zellkern zu spalten. Der genetische Code wurde entschlüsselt. Und siehe: im Zellkern fand sich aufbewahrt das Gedächtnis der Zelle, auf daß es anderenorts erblich sein darf. Nach genetischer Bauanleitung kann nunmehr manipuliert werden. Wie vormals Bauernschläue aus Pferd und Esel das nützliche Maultier gewann, gelingt es heute, aus Mikroorganismen umprogrammierte Bakterien zu gewinnen, die auf genetischen Befehl weltweit verbreiteten Ölschlamm wegfressen. Jadoch, das Faustische im menschlichen Wesen machte das und noch mehr möglich; denn sie, unsere Ratte gibt sich weiterem Gelingen hin.
Ich weiß, es fehlt nicht an Fortschrittsfeinden, die zu allen Zeiten versucht haben, jeden großen Gedanken zu zerreden und alles Kühne mit Bänglichkeit zu verschütten. Ihnen sei gesagt: Was die Schöpfung versäumte, nun wird es Ereignis! Wo bei allem Respekt der liebe Gott meinte, wohlgetan zu haben, sind jetzt längst fällige Korrekturen möglich. Das krumme Holz, von dem der Philosoph Kant sagte, es bilde den Menschen unabänderlich ab, kann, wir wissen es, endlich gestreckt werden. Es dürfen die vornehmsten Eigenschaften beider Gattungen, das kostbarste Erbgut der Menschen und die bekannten Vorzüge der Ratte, als erwählte Gene eine Symbiose eingehen; denn bliebe alles, wie es war und ist, stünde dem Menschen frei, sich unverbesserlich so zu verhalten, wie er sich seit des alten Adam Zeit beträgt, er würde an der Bedürftigkeit seiner Grundlagen scheitern. Seine nunmehr

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