Die Rättin
entschlüsselten Gene geben Entsetzliches preis. Kümmerlich ausgestattet, müßte er sich zugrunde richten. Ans Ende seiner Möglichkeiten gelangt, bliebe ihm keine Wahl, als seinesgleichen, den unverbesserlichen Menschen auszulöschen. Das darf nicht sein. Dem muß gegengesteuert werden. Vernunft und Ethik verpflichten uns, hier zu betonen: Nur durch erlesene Zutat kann der Mensch in verbessertem Modell zukünftig bleiben. Nur wenn das Rattige die menschliche Substanz bereichert, ergänzt, kontrolliert, einerseits dämpft, andererseits stärkt, hier nimmt, dort gibt, vom Ich befreit, dem Wir eröffnet und uns, weil verbessert, wieder lebenstüchtig macht, dürfen wir Zukunft erhoffen. Es wird der Homo sapiens an der Gattung Rattus norvegicus genesen. Schöpfung verwirklicht sich. Einzig der Rattenmensch wird zukünftig sein.
Noch Majestät! ahnen wir ihn nur. Noch hochverehrte Akademie! ist sein Bild ohne feste Konturen. Allenfalls machen ihn Träume deutlich. Doch schon erlauben letzte Manipulationen erste Anzeichen seiner Existenz zu erkennen. Ob in amerikanischen Forschungszentren oder in sowjetischen Laboratorien, ob in japanischen oder indischen Instituten, überall, so auch in Schwedens altehrwürdiger Universität Uppsala entsteht er, wird er, fügt er sich, sind weltweit Ratten und Mensch zu ihrer Neuschöpfung entschlossen. Deshalb soll heute auch er geehrt werden. Indem wir unserer preiswürdigen Ratte zum Nobelpreis gratulieren, sagen wir Glückwünsche ihm, der noch nicht ist, den wir ersehnen. Möge er kommen, uns entlasten und überwinden, uns verbessern und wieder möglich machen, uns ablösen und erlösen, bald, rufe ich, bald, bevor es zu spät ist, möge er sein: der herrliche Rattenmensch!
D ASSECHSTEKAPITEL, indem der Ratten
mensch denkbar und beim Wacheschieben geträumt wird, sich die Rättin als ortskundig erweist, das kaschubische Kraut wuchert, falsche Namen den Frauen anhängen, gleich nach dem Aufräumen die posthumane Geschichte beginnt, ich als Fehlerquelleerkannt werde, das große Gelddie Macht und Wilhelm Grimm eine Idee hat.
»Warum nicht!« ruft per Telefon unser Herr Matzerath, den sein Chauffeur über die Autobahn in Richtung Osten fährt. »Warum nicht Rattenmenschen«, sagt er und ist, weil ich widerspreche, sofort zu längerer Rede bereit: »Hier hat ein bloßer Gedanke schon Hosen, Strümpfe und Schuhe an...« »Nicht alles, was sich der Mensch ausdenkt, sollte leibhaftig werden!«
»Das hätte Gottvater sich sagen müssen, als er mit beiden Händen Zugriff, um aus Lehm den alten Adam zu backen.« Unser Herr Matzerath läßt sich von seinem Chauffeur Bruno, dem schon zu Pflegeheimzeiten Oskars Gespinste Wirklichkeit waren, in seinen Ansichten bestätigen. Das Monstrum gefällt, zumal der Rattenmensch ohne Umwege zu Malskat und dessen Bildern führt: »Hätte der Maler, nachdem er in Schleswigs Dom einen gotischen Truthahnfries gemalt hatte, der endlich Bewegung ins starre Geschichtsbild brachte, weitere Fabelwesen auf Kalkmörtel übertragen, wäre des Menschen uralter Traum, als Mensch auch Tier sein zu dürfen, abermals bildkräftig und allen Kunstexperten glaubhaft geworden.«
Unser Herr Matzerath zählt auf: Vierhufige Zentauren, die lächelnde Sphinx, Picassos in Anmut stierhäuptige Männer, des indischen Ganesh lustig gerüsseltes Elefantenhaupt, Nixen und Nereiden, vogel-, hundeund schlangenköpfige Götter. Des Malers Bosch Garten der Lüste lädt ihn zu Spaziergängen von Motiv zu Motiv ein. Geradezu begeistert, als wünsche er sich Krallen und ein tierisches Köpfchen, ruft er durchs Telefon: »Frankreichs gotische Kathedralen sind mit Wasserspeiern grotesker, dämonischer, höllischer Spielart gespickt, die alle, genau besehen, die Gattung Mensch anderen Tierarten einverleiben. Da schauen Schakal und Luchs aus Monstren, die Fratzen schneiden. Ziegengesichtige Weiber sah ich und Kerle gehörnt. Schon immer wünschten wir uns, vertiert, Hirsch oder Adler, auch Fisch, geschuppt oder geflügelt zu sein, und sei es zur guten Hälfte nur. Welche Schöne hätte sich nicht zum Vergnügen ein Untier ersehnt! Und der Engel mächtiges Flügelpaar! Und der Bock, der im Teufel, der Teufel, der stinkig im Bock steckt! Nein, nicht nur Kindern ist der gestiefelte Kater glaubwürdig. Als Käfer sehen wir uns: rücklings und hilflos. Und oft sind wir gegen unseren Willen und weil die Märchen so mächtig sind, zum Reh, zum Frosch, zu siebt Schwäne geworden, und waren doch nur
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