Die Rättin
Traum. Ihre Didaktik gab keine Ausflucht frei, erlaubte kein kindliches Fingerschnalzen: Herr Lehrer, ich muß mal. Zwar quietschte im Traum die Schulkreide nicht, es roch nicht nach Bohnerwachs, und dennoch war es Sütterlinschrift, mit Spitzen und Schleifen die Pein meiner Jugend, die mir vorgeschrieben blieb.
Die Rättin beklagte sich: Undankbar sei der Mensch gewesen. Nur sich selbst habe er fortwährend geehrt. Für uns immer nur Schimpf und Schande, Abscheu und Ekel...
Aber ich, Rättin, hörte ich mich beteuern, ich preise dich zeilenlang und in Bildern gestrichelt. Schon immer war Platz in meinem Wappen für dich. Schon früh ließ ich bei Hochwasser zwei Ratten, Strich und Perle genannt, witzig über die Menschen plaudern. Nun, das Alter vor Augen, habe ich mir auf Weihnachten deinesgleichen sogar gewünscht. Wie du weißt, mein Wunsch ging auf. Ich fand dein Ebenbild jung unterm Weihnachtsbaum. Wie es wächst, sag ich dir, wie mein Rättlein wächst! Gutgehalten lebt es im offenen Käfig auf einer Kommode voller leerer Papiere und will nicht fort, will von mir unterhalten sein.
Links von meiner Weihnachtsratte steht der Tisch, auf dem sich zu viele Geschichten verzetteln. Rechts von ihr steht auf dem Werkzeuggestell unser Radio. Gemeinsam hören wir im Dritten Programm, daß die Erziehung des Menschengeschlechts noch lange nicht abgeschlossen ist.
Zugegeben: es sieht kritisch aus. Überall finden auf Staatskosten Schlußfeiern statt. Sogar Künstler machen mit. Mit Feuerwerk und Laserstrahl entwerfen Genies kostspielige Himmelsbilder, die das Weltenende prächtig vorwegnehmen und Beifall finden. Mit echtem Tierblut dreitausend Liter! wurde kürzlich in Österreich vor geladenen Gästen Golgatha gefeiert. Alles, sogar der umsichgreifende Hunger heißt Mythos. Es stimmt, Rättin, wir Menschen strengen uns ziemlich an, unser Aus vorzubereiten. Sechsunddreißigmal soll es, damit nichts schiefgeht, nacheinander oder gleichzeitig möglich werden. Viele sagen: Wahnsinn! Von Widerstand ist die Rede. Und es gelingt vielleicht mit der Zeit, ich meine, vielleicht begreifen wir Menschen endlich, so kurz vor Ultimo, daß wir aus Schaden klug und viel bescheidener werden müssen, nicht mehr so hochmütig, damit die Erziehung des Menschengeschlechtes du erinnerst dich, Rättin! abermals, und mit deiner Hilfe fortan, auf dem Programm steht...
Unser Vorhaben hieß: Nicht nur, wie man mit Messer und Gabel, sondern mit seinesgleichen auch, ferner mit der Vernunft, dem allmächtigen Büchsenöffner umzugehen habe, solle gelernt werden
nach und nach.
Erzogen möge das Menschengeschlecht sich frei, jawohl, frei selbstbestimmen, damit es,
seiner Unmündigkeit ledig, lerne, der Natur behutsam, möglichst behutsam das Chaos
abzugewöhnen.
Im Verlauf seiner Erziehung habe das Menschengeschlecht die Tugend mit Löffeln zu essen, fleißig den Konjunktiv und die Toleranz zu üben,
auch wenn das schwerfalle
unter Brüdern.
Eine besondere Lektion trug uns auf, den Schlaf der Vernunft zu bewachen, auf daß jegliches Traumgetier
gezähmt werde und fortan der Aufklärung brav aus der Hand fresse.
Halbwegs erleuchtet mußte das Menschengeschlecht nun nicht mehr planlos im Urschlamm verrückt spielen, vielmehr begann es, sich mit System zu säubern. Klar sprach erlernte Hygiene sich aus: Wehe den Schmutzigen!
Sobald wir unsere Erziehung fortgeschritten nannten, wurde das Wissen zur Macht erklärt
und nicht nur auf Papier angewendet. Es riefen die Aufgeklärten: Wehe
den Unwissenden!
Als schließlich die Gewalt, trotz aller Vernunft, nicht aus der Welt zu schaffen war, erzog sich
das Menschengeschlecht zur gegenseitigen Abschreckung. So lernte es Friedenhalten, bis irgendein Zufall
unaufgeklärt dazwischenkam.
Da endlich war die Erziehung des Menschengeschlechts so gut wie abgeschlossen. Große Helligkeit
leuchtete jeden Winkel aus. Schade, daß es danach so duster wurde und niemand mehr
seine Schule fand.
Man müßte nach Stockholm schreiben. Viele Menschen, Ärzte und Wissenschaftler voran, müßten ausführlich nach Stockholm schreiben und alle Verdienste der Ratten auflisten, damit die Herren dort endlich begreifen, wie armselig die Humanmedizin und die Biochemie und die Grundlagenforschung und was noch alles ohne das Rattengeschlecht aussähe. Deine Chancen, Rättin, stehen nicht schlecht.
Zwar könnte, wenn ich die Herren der Kommission mir vorstelle, zuallererst die weißhaarige und rotäugige Laborratte gemeint sein, aber
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