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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Tierversuche!« »Weg mit Ratten und Schmeißfliegen!« und: »Auch ohne Wald geht das Leben weiter.« »Der Wald stirbt und die Grimmbrüder schlafen!«
Einige Demonstranten sind vermummt, andere mit Dachlatten bewaffnet, viele haben sich als Leichen oder wie zinkgrüne Ratten kostümiert. Jemand liest stehend eine Zeitung, deren Schlagzeile »Russen halten Kanzlerkinder versteckt!« schreit. Weil der Verkehr gerade stockt und der Zeitungsleser nahbei steht, liest der Zwerg den Aufmacher vor. Er kichert und klatscht in die Händchen.
Endlich das Schild »Zum Bundeskanzleramt«. Nach kurzer Fahrt halten sie vorm Kontrollhaus. Beim diensttuenden Offizier weist sich Rumpelstilzchen als Leiter der Kommission »Rettet die Märchen« aus. Wieder einmal muß der Prinz sein Dornröschen wachküssen: »Wir sind da, Liebste!«
Weil der Diensttuende zögert, sagt der Zwerg einen längeren Stummfilmtitel auf: »Wir suchen das Sonderministerium für mittelfristige Waldschäden und sind bei den Herren Minister und Staatssekretär Jacob und Wilhelm Grimm gemeldet. Unser Kennwort heißt Märchenstraße. Es eilt!«
Auf Weisung des Diensttuenden tippt ein wachhabender Soldat das Kennwort in die Elektronik. Auf dem Monitor steht »Kennwort Märchenstraße«. Dann kommt Antwort: »Märchenstraße freigeben«. Der Schlagbaum hebt sich. Der Diensttuende salutiert. Aus offenem Fenster gibt der Prinz Trinkgeld. Erstaunt sieht der junge, ein wenig überforderte Offizier in seinem Handteller eine goldene Münze. (Hier könnte unser Herr Matzerath Rat geben. Soll es ein Maxdor, ein Goldrubel sein?) Im Knusperhäuschen sehen die Märchengestalten, was in Bonn geschieht. Sobald die Delegation den alten Ford verläßt und von Jacob und Wilhelm Grimm vorm Portal des Ministerriums in Empfang genommen wird, klatschen sie Beifall. Sogar des Mädchens abgehauene Hände klatschen. Hänsel und Gretel erklären Rapunzel, wer Jacob, wer Wilhelm ist. Aufgeregt knabbert die Hexe an Knöchlein aus ihrer Sammlung. Die schwerhörige Großmutter sagt zu Rotkäppchen: »Hoffentlich bringen sie mir das Wörterbuch mit. Es müssen ja nicht alle Bände sein. Der Zwerg hat's versprochen.«
In den Amtszimmern der Grimmbrüder hängen an den Wänden großflächige Landkarten, die Waldgebiete und, verschiedenfarbig markiert, Waldschäden zeigen. Jacob bittet die Märchengestalten, um ein Rauchertischchen Platz zu nehmen. Wilhelm legt der Delegation ein altes Exemplar der Grimmschen Hausmärchen vor und bittet um Signaturen. Zuerst signiert Dornröschen, dann der Prinz. Der Zwerg zeichnet als »Dritter Zwerg«. Rumpelstilzchen holt zu großer Unterschrift aus, zögert und macht drei Kreuze. Erst auf Dornröschens Bitten sie sagt: »Aber die Herren wissen doch...« schreibt er in Klammern »Rumpelstilzchen« daneben.
Nachdem der dritte Zwerg die lustig arrangierten Schlümpfe in Jacob Grimms Vitrine bestaunt hat, trägt er (nach einem Vorschlag, den unser Herr Matzerath gemacht hat) den Wunsch von Rotkäppchens Großmutter nach dem Grimmschen Wörterbuch vor: »Sie hört so schwer und liest so gerne.« Geschmeichelt überreicht Jacob Grimm ein Exemplar mit Signatur: »Endlich ist sie erschienen, die vollständige Ausgabe. Es ist der erste Band von A bis Biermolke. Gerne wollen wir weitere Bände nachliefern.«
Jetzt erst bringen die Märchengestalten ihre Klage vor. Rumpelstilzchen springt auf, fordert, stampft den Boden, schüttelt Fäuste. Vornehm und verbindlich wie ein Diplomat gibt sich der Prinz. Der dritte Zwerg agitiert mit anarchistischen Untertönen. Soeben wachgeküßt, jammert Dornröschen mit schwimmendem Blick.
Die Klagen der Märchengestalten sollten in Gesten vom Kniefall bis zum Händeringen von starkem Ausdruck sein und sich mit nur wenigen Untertiteln helfen: »Ohne Wald sind wir verloren!« »Mit dem Wald werden auch wir sterben.« »Arm werden die Menschen ohne Wälder und Märchen sein.« »Rächen werden wir uns!«
Jacob Grimm zeigt auf Fotos von riesigen Fabrikanlagen und Autohalden. Er sagt: »Wir sind leider machtlos. Die Demokratie ist nur Bittsteller. Das große Geld hat die Macht!« Wilhelm Grimm ist den Tränen nahe: »Nicht nur die Mächtigen, wir alle werden mitschuldig sein, wenn der Wald stirbt.« Jetzt heult Dornröschen und läßt sich vom Prinzen nicht trösten. Der dritte Zwerg flucht: »Doch nach den Wäldern werden die Menschen sterben!«
Wütend reißt sich Rumpelstilzchen sein für diesen Effekt präpariertes Bein aus und legt

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