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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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drückt Jorinde und Joringel Hacken in die Hände. Die Böse Stiefmutter trägt den Zauberspiegel aus dem Knusperhäuschen. Rapunzel steckt unternehmungslustig ihr Haar hoch. Das Mädchen befiehlt seinen abgehauenen Händen, eine Schaufel zu fassen.
Alle wollen aufbrechen, nur die Großmutter will mit dem Wörterbuch zu Hause bleiben. Sie liest den anderen laut vor: »Den Abschied geben, zur Abschiedsstunde, er nahm seinen Abschied, wie Scheiden und Meiden gemeint, Abschiedsbecher gleich Scheidetrunk, des Mondes Abschiedsblick...« Die Märchengestalten antworten mit Abschiedsküssen. Den letzten gibt Rübezahl der Großmutter überm Wörterbuch. Jetzt erst schickt das Mädchen mit den abgehauenen Händen seine Hände mit der Schaufel voraus. Sie fliegen, gefolgt von sieben Raben davon. Überladen mit Märchengestalten verschwindet der alte Ford im Wald. Zurück bleiben einzig die Großmutter und der Wolf. Ihm liest sie aus dem Grimmschen Wörterbuch vor: »Abschlag, abschwatzen, das abgeschlappte obere Augenlid, die Abseite, der abständige Mensch...«
    Die schönen Wörter.
Nie mehr soll Labsal gesagt werden.
Keine Zunge rührt sich, mit Schwermut zu sprechen. Nie wieder Stimmen, die uns Glückseligkeit künden. Soviel Kümmernis sprachlos.
Abschied von Wörtern, die vom Mann im Land Uz sagen, er sei nacket von seiner Mutter Leibe kommen.
    Könnten wir fernerhin Biermolke
oder Mehlschütte, Honigseim, Krug sagen.
So barmen wir der Amme nach.
Wer weiß, daß der Specht einst Bienenwolf hieß? Wer hieße gerne Nepomuk, Balthasar, Hinz oder Kunz? Abschied nehmen Wörter, die um die Morgengabe, ums Vesperbrot, Abendmahl baten.
    Wer wird uns Lebewohl nachrufen,
wer flüstern, das Bett ist gemacht?
Nichts wird uns beiliegen, beschatten, beiwohnen und uns erkennen, wie der Engel der Jungfrau verheißen hat.
    Zum Abschied mit Taubheit geschlagen, gehen die Wörter uns aus.
    DAS SI EBTE KAPITEL,indemvormBundestag geredet wird, die Sieben Zwerge Individuen sind,fünf Frauen von Bord gehen und was erleben wolen, laut und leise die Quallen singen, unser HerrMatzerath ankommt, Malskat gotisch im Hochchor turnt, vereinsamt die Rättin jammert, Dornröschen sich mit der Spindelsticht und das Schiff über Vineta ankert.
    Als mir mit der Stadt Danzig, durch, die einzig ich als Gassenläufer lief, die Rättin träumte, als das Schiff, unterwegs nach Vineta, zögerte, zögerte und nicht im Hafen von Visby anlegen wollte wie auch Oskar unterwegs, auf Polens Chausseen unterwegs blieb -, träumte mir, nachdem ich in weiteren Träumen mehrmals Nein! gerufen, es muß einen Ausweg geben! behauptet und klitzeklein Hoffnung beschworen hatte, ich dürfte vor den Bundestag treten und frei oder vom Blatt eine Rede halten. Und als ich die Abgeordneten in Fraktionen vor mir sitzen sah, den Bundestagspräsidenten erhöht hinter mir und den Kanzler mit seinen Ministern rechts von mir wußte, nahm ich, als wäre es greifbar gewesen, das Wort: Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mir ist, als sehe ich Sie alle in ihrer wohldurchdachten Sitzordnung wie im Traum. Und weil ich im Traum hinters Rednerpult gestellt bin, kann es geschehen, daß manches Detail meiner Ausführungen von den Rändern her verschwimmen, andere verletzend scharfkantig sein werden. Träume haben nun mal ihre besondere Optik; sie bestehen auf Unausgewogenheit. Ihrer erforschten Natur nach sprechen sie zwar auf höherer Ebene wahr, nehmen es aber unterm Strich nicht allzu genau; denn schon jetzt, nach erstem Blick in den vollbesetzten Plenarsaal, beginnen die Übergänge von Fraktion zu Fraktion zu zerfließen: ich erkenne keine Parteien mehr, ich sehe nur noch Interessen.
Auch kommt es zu befremdlichen Nebenhandlungen. Kaum habe ich meine Rede begonnen, fällt auf, wie ein Schwarm uniformierter Geldbriefträger etlichen Abgeordneten Scheine hinblättert und wiederholt die Ministerbank mit Summen bedient, wobei vor jeder Vergütung Daumen befeuchtet werden. Außerdem ist mir, als schiebe der Bundeskanzler zu meiner Rechten, während ich rede, Stück für Stück einen großen Keil Buttercremetorte in sich hinein.
Natürlich weiß ich, daß Abgeordnete und Minister nicht öffentlich ausgezahlt werden. Niemals gäbe der Kanzler seiner Lust am Süßen so offensichtlich nach. Nur mein Traum macht das möglich. Er entblößt die Wirklichkeit und erlaubt mir sogar, den Schwarm immer noch wuselnder Geldbriefträger aufzufordern, wohlverdient eine Frühstückspause einzulegen; es muß ja

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