Die Rättin
verstrahlt, entsaftet, krepiert! in Verlegenheit bringen. Dennoch wüßte ich einen Weg. Es muß ja nicht alle Mühe und Arbeit, wie die Bibel sagt, dem Menschengeschlecht aufgebürdet bleiben. Ich erinnere an die erwiesene Überlebensfähigkeit der gemeinen Wanderratte, Rattus norvegicus genannt. Sie wird sein, wenn wir nicht mehr sind. Sie wird unsere fürsorglieh geschonten Kulturzeugnisse vorfinden. Allzeit dem Menschen anhänglich, wird die überlebende Ratte neugierig wie Ratten nun einmal sind die rußgeschwärzten Schutzschichten Zentimeter für Zentimeter abpellen und staunen über die heile Pracht...
Dann träumte ich nicht mehr, ich dürfte vor dem Bundestag eine Rede halten. Meinen letzten Satz Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre beredte Abwesenheit! hörte ich mich hellwach sprechen.
Wie gut, daß noch nichts entschieden ist: Unser Herr Matzerath unterwegs, das Schiff läuft im Hafen von Visby ein, meine Weihnachtsratte schläft und mag vom Dritten Programm träumen, doch in Grimms Wäldern wächst der Widerstand: alle Märchengestalten sind wildentschlossen.
Wie sollen wir uns die Sieben Zwerge vereinzelt vorstellen? Was läßt sich, außer daß beide das traurigste aller traurigen Paare sind, über Jorinde und Joringel noch sagen? Ist der Kußzwang es wert, gründlicher untersucht zu werden? Das und mehr möchte unser Herr Matzerath wissen, sobald er aus Polen zurück ist. Zwar gefällt es ihm, daß ich allen Sieben eine anarchische Grundhaltung eingebe, doch will er jeden Zwerg individuell ausgestattet sehen. Es könnte der zweite buchhalterisch jeden Kuß des Prinzen auf einem Zählzettel vermerken, während der vierte den wachküssenden Prinzen nachäfft; später werden wir sehen, wie der erste, der sechste und der siebte Zwerg den jungen Mann mit dem unersättlichen Kußmund mißtrauisch überwachen.
Es fällt auf, daß alle Sieben ihr Schneewittchen benutzen: Nicht nur muß das kränkliche Wesen die Wäsche waschen und bügeln, ihnen Knöpfe annähen und sieben Paar Schuhe auf Hochglanz putzen; man sieht auch diesen und jenen mit dem immer folgsamen Hausmütterchen in einer Dachkammer verschwinden. Sobald der Kunde nach relativ kurzer Zeit pfeifend treppab steigt, und Schneewittchen Mal um Mal erschöpfter aus ihrer Kammer wankt, kassiert die Böse Stiefmutter Münzen alter Prägung, preußische Thaler, Goldstücke darunter. Ruppig sind sie, laut und in ihre Knobelspiele vernarrt. Gemeinsame Übungen halten sie körperlich fit: Fingerhakeln und Beinstellen. Höflich gehen die Zwerge nur mit der Hexe um, die von allen Pensionsgästen, sogar von der Bösen Stiefmutter respektiert wird; beide vertiefen sich gelegentlich in Gespräche, in deren Verlauf Emanzipationsfragen nicht unbeantwortet bleiben.
Allzeit tritt die Wirtin des Knusperhäuschens als Herbergsmutter, also streng und fürsorglich zugleich auf, und nur gelegentlich, wenn sie mit Hänsels Fingern spielt, wird ihre Natur deutlich. Man darf vermuten, daß sie ein Verhältnis mit dem Hausknecht Rübezahl oder mit Rumpelstilzchen oder mit beiden hat, denn der ungeschlachte Riese und der humpelnde Kellner parieren erschrocken, sobald sie den langen Zeigefinger krümmt. Sie sieht es nicht gerne, wenn sich Rübezahl von Rapunzel den Bart kämmen läßt. Es mißfällt ihr, wenn Rumpelstilzchen sein Bein abschnallt, um den Stumpf mit den Armstümpfen des Mädchens zu vergleichen.
Oft verlangt die Hexe nach dem Froschkönig, den sie und Gretel häufiger mit Wassergüssen aus dem Brunnenschacht holen, als es die Filmhandlung will. Beide schwatzen gerne mit dem gekrönten Taucher, dessen Unterwassergeschichten reich an Pointen sind. Die Dame überhört das Geplauder und ist einzig mit ihrem Kopfschmerz beschäftigt, sobald ihr der Frosch von der Stirn ins Brunnenloch springt. Es wird Bewunderung für die leidende Schönheit deutlich, wenn ihr die Wirtin des Knusperhäuschens lindernde, aus getrocknetem Froschlaich gedrehte Pillen zu einem Schluck froschgrüner Flüssigkeit reicht.
Gerne läge die Hexe neben dem Brunnen; doch wie sie sich mit Erlaubnis der Dame, an deren Stelle legen darf, verweigert der Frosch den Sprung, vom Brunnenrand auf die hexische Stirn. Als wünschte sie sich das Sprichwort »Liebe läßt sich nicht zwingen« als Untertitel, lagert die Dame sich lächelnd und erfährt sogleich Kühlung. Und Gretel, die alles gesehen hat, grinst anzüglich, als wüßte das Kind, wie dem königlichen Frosch Seitensprünge
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