Die Rättin
Aber sie wird auch lernen müssen, neinzusagen, sobald der einen oder anderen Stadt, heiße sie nun Leipzig oder Stuttgart, Magdeburg oder Frankfurt am Main, die herkömmliche Zielzuweisung erhalten bleiben muß.
Ja doch, ja! Auch ich bedaure zutiefst. Es schmerzt, sagen zu müssen, daß viele europäische Hauptstädte keinen Neutronenschutz werden beanspruchen können. Doch ließe sich, wenn man entschlossen wäre, rechtzeitig zu handeln, ein Gutteil aller von Nuklearschlägen bedrohten Kulturgüter in Städte verlagern, denen schonende Neutronisierung zugesichert ist. Zum Beispiel könnten die Schätze des Vatikan nach Avignon, die Kunstzeugnisse des Louvre nach Straßburg, was Warschau aufzuweisen hat, nach Krakau und die Glanzstücke der Ostberliner Museumsinsel in den schonungswürdigen Kulturkreis Weimar verlagert werden. Ich schließe nicht aus, daß man freiwillig, wenn auch nicht frei von Wehmut, vertraute Domtüren, liebgewonnene Barockfassaden, seit Generationen benutzte Taufbecken und altgewohnte Brückenheilige in Schonzonen auslagern wird; eine gesamteuropäische Transaktion übrigens, durchaus geeignet, Arbeitsplätze zu schaffen. Warum zum Beispiel sollte es unserem Sachverstand nicht gelingen, den Kölner Dom nach Dinkelsbühl zu versetzen, den London Tower nach Stratford zu tragen?
Denn, meine Damen und Herren, was täten wir nicht, um die Zeugnisse europäischer Kultur zu retten!? So könnte Europa zum letzten Mal Größe unter Beweis stellen und beispielhaft sein, damit uns auf anderen Kontinenten schonungsvoll nachgeeifert werde. Deshalb bitte ich, mir eine persönliche Bemerkung zu gestatten, die mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zu dieser Stunde angebracht ist: Wenn meine Heimatstadt Danzig, die seit Ende des vorläufig letzten Weltkrieges GdaDsk heißt, das Glück haben sollte, den neutronisierten Städten anzugehören, also mit allen Türmen und Türmchen, den Giebelhäusern und Beischlägen, mit ihrem Neptunsbrunnen und all ihrer backsteingotischen Strenge den dritten Weltkrieg überdauern dürfte, fiele mir jedes, aber auch jedes zu bringende Opfer leicht.
Gewiß wird man rufen: Das ist inhuman! Zynismus ist das. Und auch ich habe mich anfangs gefragt: Was nützt uns aller Kulturschutz, wenn in den neutronisierten Städten jegliches Leben, in dessen Fleisch, wie die Bibel sagt, Odem ist, bis zum Eintritt des Todes entsaftet wird? Wer bliebe übrig, das Geschonte zu schauen und staunend zu rufen: Welch unvergängliche Schönheit!?
Wir sollten uns dennoch nicht beirren lassen. Es bleibt keine andere Wahl. Wie die Freiheit fordert auch die Kunst ihren Preis. Deshalb sollten Sie, meine Damen und Herren, mit aller Festigkeit Ihre Entscheidung treffen.
Doch wie ich in den Plenarsaal blicke und sehe, wie sehr sich die Bänke gelichtet haben, mehr noch, daß ich alleine in diesem Hohen Hause bin denn nun ist auch der Kanzler samt Kabinett verschwunden -, beginne ich zu zweifeln. Ich frage mich: Werden die abwesenden Abgeordneten bereit sein, so konsequent kunstfreundlich zu handeln, wie sie bei anderer Gelegenheit, als unsere Freiheit geschützt werden mußte, zu diesen Mittelstreckendingsbums wie heißen sie noch?! mehrheitlich Ja sagten?
Doch fort sind sie, keinem Wort zugänglich mehr. Dabei hätte ich gerne weitere Vorschläge gemacht, geeignet den Schutz der neutronisierten Kunstdenkmäler zu vervollkommnen. Es geht um den Dreck danach.
Wie ich aus posthumaner Quelle weiß und wie alle Experten jetzt schon versichern, werden nach dem Großen Knall Aschewolken den Himmel verfinstern. Stürme werden diesen geballten Ausdruck letzter menschlicher Möglichkeit um den Erdball tragen, so daß die heilgebliebenen Kathedralen, reichverzierten Schlösser und heiteren Barockfassaden bald rußgeschwärzt sein werden. Auf allem wird Ruß liegen. Dicker, fettiger Ruß. Schaden ohnegleichen wäre die Folge. Ein Jammer! Eine Kulturschande! Will denn niemand hören? Heh, Kanzler!
Fort ist er, ließ nur Krümel zurück. Dabei müßte man gegensteuern. Jetzt und sofort! Forschungsmittel müßten freigegeben, deutscher Erfindungsgeist mobilisiert und unsere Chemiekonzerne aufgefordert werden, einen ablösbaren Schutzstoff zu entwickeln, damit der Ruß nicht auf ewige Zeiten...
Ich weiß, die Frage bleibt offen: wer, zum Teufel, soll später die Schutzbeschichtungen lösen? Wären Sie, meine Damen und Herrn von der Opposition, noch anwesend, könnten Sie mich mit dem Zwischenruf Es sind doch alle Menschen
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