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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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mit ihm ins Bett gehen«, sagt sie und nickt wissend mit dem Kopf. Sie genießt die Rolle der weisen Frau, der Ratgeberin aller, die mit Kummer beladen sind. Es bewahrt einen davor, selbst vom Kummer heimgesucht zu werden.
    »Ich?« sagt Tony. Die Mädchen aus der McClung Hall reden zwar endlos über ihre diversen Freunde, drücken sich jedoch immer reichlich vage aus, wenn es darum geht, was sie denn nun tatsächlich mit ihnen machen. Falls sie mit ihnen ins Bett gehen, sagen sie es nicht. Zenia ist die einzige, die Tony je gekannt hat, die in bezug auf Sex offen war, bis zu diesem Augenblick.
    »Wer denn sonst?« sagt Roz. »Du mußt ihm das Gefühl geben, gewollt zu sein. Du mußt ihm das Interesse am Leben zurückgeben.«
    »Ich glaub nicht, daß ich das kann«, sagt Tony. Der Gedanke, mit egal wem ins Bett zu gehen, macht ihr Angst. Was, wenn der Betreffende sich aus Versehen auf sie rollen und sie plattquetschen würde. Außerdem schreckt sie vor dem Gedanken zurück, einem anderen Menschen derart viel Macht über sich selbst zu geben. Um erst gar nicht davon zu reden, daß sie sich nicht gerne betatschen und besabbern lassen würde. Zenia ist in bezug auf Sex offen gewesen, aber er hat sich bei ihr nicht so besonders attraktiv angehört.
    Als sie jedoch darüber nachdenkt, muß sie zugeben, daß, wenn es überhaupt einen Menschen gibt, den sie tolerieren könnte, dieser Mensch West wäre. Jetzt schon hält sie seine Hand, wenn sie Spazierengehen; es ist nett. Aber wenn es um konkrete Einzelheiten geht, muß sie passen. Wie um alles in der Welt soll sie West an einen Ort wie ein Bett locken, und in welches Bett? Nicht in ihr eigenes, schmales Bett in der McClung Hall – das geht auf gar keinen Fall, zu viele Augen, die einen beobachten, man kann nicht einmal einen Keks essen, ohne daß alle Bescheid wissen – und gewiß nicht in das Bett, in dem er mit Zenia geschlafen hat. Es wäre nicht richtig! Außerdem weiß sie nicht, wie so etwas gemacht wird. Theoretisch, ja, da weiß sie natürlich, was wohin gehört, aber in der Praxis? Eine der Hürden ist die Unterhaltung: was sagt man in so einem Fall? Und selbst wenn es ihr gelänge, West an die betreffende Örtlichkeit zu locken, was dann? Sie ist zu klein, und West ist zu groß. Sie würde zerfetzt werden.
    Aber sie liebt West. Soviel ist ihr klar. Und geht es nicht darum, sein Leben zu retten? Doch. Folglich sind Heldenhaftigkeit und Selbstaufopferung gefordert.
    Tony beißt die Zähne zusammen und schickt sich an, West zu verführen. Sie stellt sich dabei genauso ungeschickt an, wie sie es befürchtet hat. Sie versucht, Kerzen in Wests Wohnung zu bringen und ein Essen zu kochen, das sie dann bei Kerzenschein verzehren sollen, aber ihre Aktivitäten in der Küche scheinen West nur noch mehr zu deprimieren, weil Zenia eine so wundervolle und erfinderische Köchin war; dazu kommt noch, daß Tony den Thunfischauflauf anbrennen läßt. Sie nimmt West mit ins Kino, schleppt ihn in billige und alberne Horrorfilme, die ihr einen Vorwand liefern, im Dunkeln nach seiner Hand zu greifen, wenn die Vampire die Zähne fletschen und die Gummiköpfe die Treppe herunterkullern. Aber was immer sie tut, wird von West als Freundschaftsdienst und nichts anderes aufgefaßt. So kommt es Tony wenigstens vor. Zu ihrer Verzweiflung, aber auch – teilweise – zu ihrer Erleichterung, sieht er sie als eine Art getreuen Kumpel, und damit hat es sich.
     
    Es ist Juni, es ist warm, das Semester ist vorbei, aber Tony hat wie üblich einen Sommerkurs belegt, damit sie nicht aus ihrem Zimmer in der McClung Hall ausziehen muß. Eines Nachmittags fährt sie in Wests Wohnung, um seinen angesammelten, schimmeligen Abwasch zu machen und ihn zu seinem üblichen Spaziergang auszuführen, und findet ihn schlafend im Bett. Seine Lider sind geschwungen und rein, wie die von gemeißelten Grabsteinheiligen; einen Arm hat er hinter den Kopf geworfen. Atem geht in ihn hinein, Atem geht aus ihm heraus: sie ist so dankbar, daß er noch, noch, am Leben ist. Seine Haare – seit Wochen nicht mehr geschnitten – stehen wirr von seinem Kopf ab. Er sieht so traurig aus, wie er da liegt, so verlassen, so unbedrohlich, daß sie sich vorsichtig neben ihn setzt, sich behutsam vorbeugt und ihn auf die Stirn küßt.
    West macht die Augen nicht auf, aber seine Arme legen sich um sie. »Du bist so warm«, murmelt er in ihre Haare. »Du bist so gut zu mir.«
    Noch nie hat jemand Tony als warm und gut bezeichnet. Noch

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