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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Dies und das, sagt sie. Sie lacht und sagt, daß sie ein kurzes Gedächtnis hat.
    Über das Geld, mit dem sie sich aus dem Staub gemacht hat, sagt sie taktvollerweise nichts, und Tony kommt zu dem Schluß, daß es kleinlich von ihr wäre, das Thema anzuschneiden. Dafür sagt Zenia: »Oh, da ist ja deine wundervolle Laute, ich hab sie immer geliebt«, als hätte sie nicht die geringste Erinnerung daran, daß sie selbst dieses Instrument gekidnappt hat. West scheint sich auch nicht daran zu erinnern. Auf Zenias Bitte spielt er ein paar der alten Lieder; obwohl er nicht mehr so viel mit Folksongs zu tun hat, sagt er.
    Inzwischen hat er sich auf kulturübergreifende Studien polyphoner Gesänge spezialisiert.
    Keine Erinnerung , keine Erinnerung. Hat denn außer Tony kein Mensch eine Erinnerung? Anscheinend nicht; oder vielmehr, West hat keine Erinnerung, und Zenias Erinnerung ist hochgradig selektiv. Sie läßt kleine Andeutungen fallen, kleine Anspielungen, und macht dabei ein wehmütiges Gesicht: es gibt Dinge, die sie bedauert, das ist es, was sie durchblicken läßt, sie hat ihr eigenes Glück für das von West geopfert. Haus und Heim, das ist es, was er braucht, keine ziellose Herumtreiberin wie Zenia, die niemals Moos ansetzen wird, und Tony ist so eine geschäftige kleine Hausfrau – ist dieses Essen nicht einfach gerissen! West ist da, wo er hingehört: wie eine Topfpflanze im richtigen Fenster, man sieht richtig, wie er gedeiht! »Ihr zwei seid solche Glückspilze«, flüstert sie Tony zu, ein kummervolles Stocken in der Stimme. West hört es, was auch beabsichtigt war.
    »Wo wohnst du eigentlich?« fragt Tony höflich, meint aber: Wann gehst du wieder.
    »Ach, du weißt schon«, sagt Zenia schulterzuckend. »Hier und da. Ich leb von der Hand in den Mund – oder von Festessen zu Hungersnot. Wie in den alten Zeiten, weißt du noch, West? Erinnerst du dich noch an unsere Festgelage?« Sie ißt eine Praline, aus der Schachtel, die West als Überraschung für Tony mit nach Hause gebracht hat. Er bringt ihr oft kleine Geschenke mit, kleine Entschädigungen für den Teil von ihm, den er ihr nicht geben kann. Zenia leckt sich die dunkle Schokolade von den Fingern, einen nach dem anderen, und sieht West durch halb gesenkte Wimpern an. »Köstlich«, sagt sie bedeutungsschwer.
    Es ist Tony unbegreiflich, daß West das alles nicht durchschaut, die Schmeicheleien und die faulen Tricks, aber er tut es nicht. Er hat einen blinden Fleck: sein blinder Fleck ist Zenias Unglück. Oder ihr Körper. Männer, denkt Tony mit neuer Bitterkeit, scheinen das eine nicht vom anderen unterscheiden zu können.
     
    Ein paar Tage später kommt West später als üblich nach Hause. »Ich war mit Zenia noch ein Bier trinken«, sagt er zu Tony und sieht dabei aus wie ein Mann, der gewissenhaft ehrlich ist, obwohl er versucht ist, es nicht zu sein. »Sie hat es im Augenblick ziemlich schwer. Sie ist ein sehr verletzlicher Mensch. Ich mach mir ziemliche Sorgen um sie.«
    Verletzlich ? Wo hat West dieses Wort her? Tony findet, daß Zenia etwa so verletzlich ist wie ein Betonklotz, aber das sagt sie lieber nicht. Statt dessen sagt sie etwas, was fast genauso schlimm ist. »Ich nehm an, daß sie Geld will.«
    West sieht gekränkt aus. »Wieso magst du sie eigentlich nicht?« fragt er. »Ihr wart doch früher so gute Freundinnen. Es ist ihr übrigens aufgefallen. Es macht ihr zu schaffen.«
    »Wegen dem, was sie dir angetan hat«, sagt Tony empört. »Deswegen mag ich sie nicht!«
    West ist erstaunt. »Was hat sie mir denn angetan?« fragt er. Er weiß es wirklich nicht.
     
    Im Handumdrehen – genauer gesagt, innerhalb von zwei Wochen – hat Zenia sich West zurückgeholt, so wie sie sich einen wie auch immer gearteten Gegenstand zurückholen könnte, der ihr gehört, einen Koffer zum Beispiel, den sie in einer Gepäckaufbewahrung aufgegeben hat. Sie klemmt sich West einfach unter den Arm und spaziert mit ihm davon. Natürlich sieht es für ihn ganz und gar nicht so aus; nur für Tony. Für West sieht es so aus, als befinde er sich auf einer Rettungsmission, und Tony ist die letzte, die den Reiz von so etwas abstreiten könnte.
    »Ich bewundre dich sehr«, sagt er zu Tony. »Du wirst immer meine beste Freundin sein. Aber Zenia braucht mich.«
    »Wofür braucht sie dich?« fragt Tony mit leiser, heller Stimme.
    »Sie ist selbstmordgefährdet«, sagt West. »Du bist stark, Tony. Du bist immer stark gewesen.«
    »Zenia ist stark wie ein Ochse«,

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