Die Räuberbraut
nie hat ein Mann seine Arme um sie gelegt. Während sie noch dabei ist, sich daran zu gewöhnen, fängt West an, sie zu küssen. Kleine Küsse, über ihr ganzes Gesicht verteilt. Seine Augen sind immer noch geschlossen. »Geh nicht weg«, flüstert er. »Beweg dich nicht.«
Tony kann sich sowieso nicht bewegen, weil sie vor lauter Angst wie gelähmt ist. Sie ist entsetzt über ihren Mangel an Mut, aber auch über die unfaßliche Größe von Wests Körper, jetzt, wo sie ihm so nahe ist. Sie kann sogar die Bartstoppeln sehen, die aus seinem Kinn sprießen! Normalerweise sind sie für sie viel zu hoch oben. Es ist, wie wenn man die Ameisen auf einem herabstürzenden Felsen sieht, kurz bevor er einen erschlägt. Sie fühlt sich zutiefst bedroht.
Aber West ist sehr behutsam. Er nimmt ihr die Brille ab; dann öffnet er einen Knopf nach dem anderen, unbeholfen, als seien seine Finger eingeschlafen, und zieht seine kratzige Decke über sie, und streichelt sie, als wäre sie ein Samtkissen, und obwohl es tatsächlich weh tut, wie es in den Büchern steht, ist es weniger so, als würde man von wilden Tieren zerrissen, wie sie nach dem vielen Grunzen und Knurren vermutet hatte, das zu Zenias Zeiten vor sich ging, und mehr so, als würde man in einen Fluß fallen, denn West ist genau das, als was andere Leute ihn bezeichnen, ein langer Schluck Wasser, und Tony ist so durstig, sie ist völlig ausgedörrt, sie ist all die Jahre durch die Wüste gewandert, und jetzt endlich braucht jemand sie für irgend etwas, und zum Schluß entdeckt sie, was sie schon immer wissen wollte: daß sie innen größer ist als außen.
Auf diese Weise zerrt Tony, stolz auf sich selbst und erfüllt von der Freude des Gebens, West vom Schlachtfeld der Niederlage und karrt ihn hinter die Linien und pflegt seine Wunden und flickt ihn wieder zusammen. Er ist zerbrochen worden, aber nach einer Weile wächst er wieder zusammen. Wenn auch nicht vollständig. Tony ist sich der Narbe bewußt, die die Form einer unterschwelligen Angst annimmt: West ist überzeugt, daß er bei Zenia versagt hat, sie im Stich gelassen hat. Er denkt, sie wurde in die dunklen Gassen dieser Welt hinausgestoßen, wo sie (mehr schlecht als recht) um ihr Überleben kämpfen muß, weil er nicht fähig genug oder clever genug oder einfach nicht genug für sie war. Er denkt, sie braucht seinen Schutz, und Tony muß ihr Hohnlächeln für sich behalten. Es gibt keine schlimmere Rivalin als eine, die nicht anwesend ist. Zenia ist nicht da, um sich zu verteidigen, und aus diesem Grund kann Tony sie nicht angreifen. Ritterlichkeit und auch Klugheit binden ihr die Hände.
Im Herbst geht West an die Uni zurück und holt die Kurse nach, die er versäumt hat. Tony hat ein Graduiertenstudium angefangen. Die beiden mieten sich eine kleine Wohnung und teilen sich ordentliche Frühstücke und zärtliche, liebevolle Nächte, und Tony ist glücklicher, als sie es jemals war.
Die Zeit vergeht, und beide machen ihr Examen und bekommen eine Assistentenstelle. Nach einer Weile heiraten sie, standesamtlich; die anschließende Feier ist klein und intellektuell angehaucht, obwohl auch Roz da ist, die inzwischen ebenfalls verheiratet ist. Ihr Mann, Mitch, konnte nicht kommen, erklärt sie; er ist auf einer Geschäftsreise. Sie umarmt Tony und schenkt ihr eine silberne Abdeckhaube fürs Telefon, und als sie (relativ früh) gegangen ist, fragen Tonys historische und Wests musikalische Kollegen und Kolleginnen mit ironisch hochgezogenen Augenbrauen, wer um alles in der Welt das denn war? Aber ihre Anwesenheit hat Tony getröstet und beruhigt: obwohl die Ehe ihrer Eltern eine Katastrophe war, muß die Ehe an sich möglich und sogar normal sein, wenn Roz sich darauf einläßt.
West und Tony ziehen in eine größere Wohnung, und West kauft ein Spinett, als Ergänzung zu seiner Laute. Er hat jetzt einen Anzug und mehrere Krawatten, und eine Brille. Tony kauft eine Kaffeemühle und eine Bratpfanne und ein Exemplar von Die Freuden des Kochens , in dem sie esoterische Rezepte nachschlägt. Sie backt Haselnußtorten und kauft ein Fondueset mit langen Gabeln, und mehrere Schisch-Kebab-Spieße.
Noch mehr Zeit vergeht. Tony denkt an Kinder, schneidet das Thema jedoch nicht an, da West noch nie etwas davon gesagt hat. Auf den Straßen finden Friedensdemonstrationen statt, und in den Räumen der Universität chaotische Sit-ins. West bringt ein bißchen Marihuana mit nach Hause, und sie rauchen es gemeinsam, und ängstigen
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