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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Zeit, sich selbst zu bemitleiden, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt ist, West zu bemitleiden.
    Wests Hand liegt passiv in Tonys Hand. Es ist, als wäre er blind: er geht, wo Tony ihn hinsteuert, er hat jeden eigenen Willen verloren, es ist ihm egal, in welche Richtung er gelenkt wird. Abgrund oder sicherer Hafen, ihm ist alles gleich. Von Zeit zu Zeit scheint er aufzuwachen; er sieht sich um, orientierungslos. »Wie sind wir hierher gekommen?« sagt er, und Tony bricht es fast das butterweich gewordene Herz.
    Am meisten sorgt sie sich über Wests Alkoholkonsum. Er trinkt immer noch nur Bier, aber er kippt bedeutend mehr davon in sich hinein als früher. Es ist sogar möglich, daß er nie vollkommen nüchtern ist. Zenias Abwesenheit ist wie ein Pfad, ein Pfad, den Tony wiedererkennt, weil sie ihn schon einmal gesehen hat. Er führt immer weiter bergab und endet abrupt auf einer Lage blutdurchtränkter Zeitungen, und West stolpert diesen Pfad entlang wie ein Schlafwandler. Tony kann ihn weder aufhalten noch wecken, denn was hat die dünne, linkische, einfältige Tony mit ihrer überdimensionalen Brille und ihren Spaziergängen im Park und ihren ewigen Tees denn schon zu bieten im Vergleich zur Erinnerung an die schimmernde Zenia, die West im Herzen trägt, oder vielleicht sogar anstelle eines Herzens?
    Tony ist krank vor Sorge um ihn. Sie kann nicht mehr schlafen. Dunkle Ringe erscheinen unter ihren Augen, ihre Haut sieht aus wie Papier. Sie schreibt ihre Abschlußprüfungen in panikartiger Trance, statt mit ihrem üblichen, kühlen Rationalismus und greift dabei auf Reserven versteckter Kenntnisse zurück, von denen sie nicht einmal wußte, daß sie sie besaß.
    West dagegen kommt erst gar nicht, wenigstens nicht zur Prüfung in Geschichte der Neuzeit. Der Strudel zieht ihn immer weiter in die Tiefe.
     
    Roz begegnet Tony in der Eingangshalle der McClung Hall und registriert mit einem Blick, wie erbärmlich sie aussieht.
    »Hey Tone«, sagt sie. (Seit Zenias Verschwinden, von dem sie natürlich weiß, die Gerüchteküche hat viele Köche, ist sie zu dieser alten Koseform von Tonys Namen zurückgekehrt. Ohne Zenia wird Tony nicht mehr voller Nervosität beäugt und kann wieder als Diminutiv behandelt werden.) »Hey Tone, wie geht’s denn so? Heiliger Strohsack, du siehst ja furchtbar aus.« Sie legt ihre große, warme Hand auf Tonys spitze Vogelschulter. »So schlimm kann’s doch nicht sein. Was ist denn los?«
    Mit wem hätte Tony sonst reden können? Sie kann nicht mit West über ihn selbst reden, und Zenia ist weg. Früher hätte sie mit keinem geredet, aber seit den Kaffees im Christie’s hat sie Geschmack an Vertraulichkeiten gefunden. Also gehen sie in Roz’ vollgestopftes Zimmer und setzen sich auf Roz’ kissenübersätes Bett, und Tony packt aus.
    Sie erzählt Roz nichts von dem gefälschten Referat und den tausend Dollar. Sie spielen in dieser Geschichte keine Rolle. Was in dieser Geschichte eine Rolle spielt, das ist West. Zenia ist verschwunden, mit Wests Seele, die sie in ihre Schultertasche gestopft hat, und ohne seine Seele wird West sterben. Er wird sich umbringen, und was wird Tony dann machen? Wie soll sie nur mit sich allein leben können?
    So drückt sie das alles natürlich nicht aus. Sie skizziert nur die nackten Fakten, und es sind Fakten. Sie ist nicht melodramatisch. Sie ist objektiv.
    »Hör zu, Süße«, sagt Roz, als Tony mit Erzählen fertig ist. »Ich weiß, daß du ihn gern hast, ich mein, er scheint ja auch ein ganz netter Kerl zu sein, aber ist er das alles wert?«
    Das ist er, sagt Tony. Das ist er, das ist er ganz entschieden, aber sie hat keine Hoffnung. (Er wird dahinsiechen und dahinschwinden wie in den alten Balladen. Er wird vor Gram verwelken und vergehen. Und dann wird er sich eine Kugel durch den Kopf jagen.)
    »Klingt für mich, als würd er sich aufführen wie ein Vollidiot. Zenia ist ein Flittchen, das weiß doch jeder. Vor ein paar Jahren hat sie die Hälfte aller Verbindungsleute durchgezogen – mehr als die Hälfte! Hast du das Gedicht, das über sie im Umlauf ist, noch nie gehört? ›Kummer mit dem Penia? Probier es mal mit Zenia.‹ Er sollte endlich aufwachen«, sagt Roz, die die Liebe erst noch kennenlernen wird, da sie Mitch noch nicht kennengelernt hat. Den Sex jedoch hat sie bereits kennengelernt und hält ihn für die neue Wunderdroge, und sie hatte schon immer Probleme damit, ein Geheimnis für sich zu behalten. Sie senkt die Stimme. »Du solltest

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